Offensichtlich werde ich mich mit Xenophon in diesem Leben nicht mehr anfreunden. Und das liegt zum größten Teil an diesen seinen Erinnerungen an Sokrates.
Der Text ist zunächst und vor allem Apologie des Sokrates. Gleich zu Beginn finden wir folgenden Satz:
Immer wieder habe ich mich darüber gewundert, durch welche Gründe denn eigentlich die Ankläger des Sokrates die Bürger von Athen davon überzeugt haben mögen, daß er des Todes um den Staat schuldig sei.
Denn, so fährt er fort, die vom Staat anerkannten Götter seien auch von Sokrates anerkannt worden, habe er ihnen doch regelmäßig öffentlich und privat geopfert. Auch sein Dämon, auf den er zu hören pflegte, sei kein neuer, anderer Gott gewesen, sondern nur ein anderer Ausdruck für Ahnungen und Gewissheiten, die Sokrates zu überkommen pflegten. Ahnungen und Gewissheiten, die andere aus dem Orakel zögen, z.B. dem Flug der Vögel.
Xenophon lässt durchblicken, dass zumindest die ihm feindlich gesinnten Athener Sokrates für nichts Besseres als einen der vielen umherirrenden Sophisten gehalten haben – gefährlicher noch als diese, da er Athener war und für seinen Unterricht kein Geld annahm und also nicht über Pekuniäres zum Schweigen gebracht werden konnte oder man auf seine baldige Abreise hoffen durfte.
Den größeren Rest seiner Erinnerungen verbringt der Autor damit, an Hand von erinnerten Gesprächen aufzuzeigen, wie Sokrates immer zu Gunsten des Staates argumentiert habe, zu Gunsten seiner Freunde auch, sofern dies nicht die Prärogativen des Staates verletzte. Wenn Platons Sokrates dabei auch weiter führende philosophische Fragen (z.B. nach dem Guten oder dem Schönen) behandelte, so bleibt Xenophons Sokrates sehr … sagen wir einmal … „bodenständig“. Oder nein, besser: bedürfnisorientiert. Denn letzten Endes geht er immer auf die Bedürfnisse seiner Gesprächspartner ein, auch wenn er hin und wieder, wie im Falle von Platons Bruder Glaukon, dazu rät, dass der Betreffende doch sich doch zuerst die Basis erarbeite zu einem Job im Staat, bevor er als politischer Redner vors Volk trete. Doch genau deswegen gilt, dass die sokratischen Gespräche bei Xenophon sich vor allem um folgende Fragen drehen: Wie stelle ich es am Geschicktesten an, um (als Staatsmann, als Feldherr etc. etc.) Karriere zu machen? Solche Probleme beschäftigen diesen Sokrates; in solchen Fragen berät er seine Freunde. Und wenn Xenophon nicht umhin kann, den angeklagten Sokrates in seiner Verteidigung lasch und arrogant zu finden, so entschuldigt er es damit, dass Sokrates selber gesagt haben soll, dass er nun in einem Alter sei, in dem er jeden Tag damit rechnen müsse, dass ihn seine Beine, seine Augen oder sein Verstand im Stich lassen könnten und er deswegen nicht mehr das erfüllte Leben führen könne, das er gewohnt sei. Also sei sein Bedürfnis, weiter zu leben, gar so groß nicht mehr.
Ein Asebie-Prozess als Sterbehilfe; Sokrates als Utilitarist; Ethik als plattes Anpassungsverhalten. Auf solche Ideen muss man zuerst kommen. Xenophon tat es.
Daneben lässt sich feststellen: Andere Sokrates-Schüler werden entweder nur ganz am Rande erwähnt (wie Platon als Bruder Glaukons) oder als ziemlich unwissend dargestellt (Aristipp in zwei Dialogen); die Konkurrenz (Hippias) als schnippisch, aber auch nicht allzu intelligent.
Xenophons Darstellung von Sokrates ist auf jeden Fall als Ergänzung und Korrektiv bei zu ziehen, da wir ja im Übrigen nur die Darstellung Platons haben, die Sokrates ziemlich sicher von Anfang an schon sehr auf die Seite Platonischen Denkens zieht, weg vom wohl wirklich „bodenständigeren“ Original. Aber dieser Sokrates hier wäre – bei aller Gutmütigkeit und aller von ihm propagierten Freundschafts-Moral – eine ziemliche Zecke gewesen. Da alle anderen Schüler des Sokrates sich entweder von Anfang an über ihn ausgeschwiegen haben oder ihre Erinnerungen verloren gingen, werden wir uns aus den beiden, Platon und Xenophon, wohl oder übel unseren eigenen Sokrates basteln müssen. Die Geschichte der Philosophiegeschichte zeigt, dass der Platonische Sokrates meist den Vorzug erhielt. Verständlich, ist es doch dieser Sokrates, der sich in die Tiefen der Forschung nach Wissen und Ethik vorwagte, während Xenophons Sokrates in den Untiefen platter utilitaristischer Moral dümpelte.