Arthur Schopenhauer: Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde

Im Vorwort zu Die Welt als Wille und Vorstellung, seinem Hauptwerk, empfiehlt Arthur Schopenhauer, vorgängig zu dessen Lektüre diesen (kürzeren) Text hier zu lesen, weil dies das Verständnis der Argumente in der Welt als Wille und Vorstellung erleichtere. Dass er dann in der vierfachen Wurzel immer wieder auf Die Welt als Wille und Vorstellung verweist zum besseren Verständnis dieses Begriffs oder jenes Arguments, ist nicht nur einer bei Schopenhauer inhärenten Geringachtung seiner Leserschaft geschuldet. Es ist auch ein Zeichen dessen, dass für ihn seine Philosophie über Jahrzehnte sich gleich geblieben ist; und so kann der nunmehr 60-Jährige ohne Probleme die Dissertation des 26-Jährigen weiter verwenden und mit Zusätzen neu herausgeben. Diese Zusätze sind nicht immer nötig zum besseren Verständnis von Schopenhauers Philosophie – oft sind es auch nur Invektiven und Ungehobeltheiten, die er gegen seine liebsten Bêtes noires loslässt, die deutschen Idealisten. Allen voran natürlich Hegel, an dem er kein gutes Haar lässt (auch nach dessen Tod nicht – die 2. Auflage der vierfachen Wurzel stammt von 1847 und gibt ihm einfach die Möglichkeit, zusätzlich zu deren Meister noch über die sich bildende Schule der Hegelianer her zu ziehen). Aber auch Schelling kriegt des öfteren sein Fett weg, Fichte und sogar Jacobi. Allen wirft er vor, mit ihren dialektischen Dreischritten und ähnlichem Firlefanz, ihrem das Nicht-Ich setzenden Ich und Wortspielereien die Philosophie vom Stand einer Erkenntniswissenschaft pervertiert zu haben zu einer leere Spielerei mit Wörtern ohne Bedeutung. (Ja, Schopenhauer geht so weit, die Texte dieser Leute mit dem „mystischen Lallen“ – meine Formulierung – eines Jakob Böhme zu vergleichen!)

Als erstes nun stellt uns Schopenhauer den Satz vom zureichenden Grund vor, in der Formulierung von Wolff:

Nihil es sine ratione cur potius sit, quam non sit. Nichts ist ohne Grund warum es sei. (§ 5)

Nach einer kurzen Übersicht darüber, was bisher dazu ausgesagt wurde (bei Descartes, Spinoza, Leibniz, Wolff [Schopenhauer schreibt hier plötzlich Wolf], Baumgarten, Reimarus, Lambert, Platner, Hume, Kant und den Kantianern), geht er dann im Vierten Kapitel über zur Darstellung der ersten Wurzel dieses Satzes. Denn, so Schopenhauer, um den Satz ganz zu verstehen, müssen vier Wurzeln, oder, wie ich sie tentativ nennen möchte, „Verwendungsweisen“, vier verschiedene Anwendungsbereiche gesondert werden.

1. Bei den Vorstellungen (Satz vom zureichenden Grund des Werdens)

Hier stützt sich Schopenhauer auf Kants Kritik der reinen Vernunft, korrigiert aber Kant insofern, als er dessen Ding an sich sozusagen noch eine weitere Ebene ’nach hinten‘ verschiebt, indem er behauptet, dass dem Verstand unmittelbar nur Anschauungen gegeben sind, die die Vernunft mittels der a priori gegebenen Begriffe von Raum und Zeit zu Vorstellungen (Erkenntnissen) verarbeitet. Diese Anschauungen werden und vergehen. Jede Anschauung aber hat ihren Grund, oder, besser gesagt: ihre Ursache (Kausalität). Die Kette der Ursachen endet nie. Damit gibt es für Schopenhauer (wie auch schon für Kant) keinen absoluten Grund des Seins, wie es einige Philosophen (ich vermute, Schopenhauer denkt hier an Hegel und Schelling) postuliert haben. Das ist, so Schopenhauer, nur Wortgeklingel und eine Pervertierung der Bedeutung des Wortes „Grund“.

2. Bei den Begriffen (oder: Vorstellungen aus Vorstellungen

Die Begriffe sind die Resultate der Anwendung der Urteilskraft auf die Anschauungen. Man könnte von Abstraktionen sprechen, die auch ihrerseits abstrahiert werden können, womit eine ganze Kaskade von einander enthaltenden Klassen entsteht. (Kannte Russell, der ebenfalls unter einer heftigen Allergie gegen die Hegelianer seiner Zeit litt, den Deutschen?) Unter die Vorstellungen aus Vorstellungen fallen logische ebenso wie empirische Wahrheiten, transzendentale („Nichts geschieht ohne Ursache.“) ebenso wie metalogische (a = a) – nicht aber z.B. Platons Ideen. (Hier ist für Schopenhauer auch die Willensfreiheit verankert (er spricht von der Wahlentscheidung (d.i. de[m] bewußten Konflikt der Motive.) Auch das Tier hat Vorstellungen, aber keine Begriffe. Es versteht sich von selber, dass die Wahlentscheidung nur subjektiv gegeben ist, weshalb Schopenhauer dem ganzen Kapitel auch den Titel Über die zweite Klasse der Objekte für das Subjekt […] gegeben hat.

3. Bei den a priori gegebenen Anschauungen der Formen des äußeren und inneren Sinnes, des Raums und der Zeit

Schopenhauer spricht von den Seinsgründen im Raum und der Zeit – gemeint sind damit Arithmetik und Geometrie. Und so, wie er unter Punkt 1 Ausflüge in die Physologie (vor allem des Sehens!) gemacht hat und dafür auch Goethes Farbenlehre verwendet, wird er hier unter Punkt 3 Euklids Lehrbuch der Geometrie ausschlachten.

4. Beim letzten Objekt (denn da ist nur eines!), dem unmittelbaren Objekt des inneren Sinnes, das Subjekt des Wollens

Hier ist das Subjekt selber gemeint, das sich (als Objekt) nur als ein wollendes erkennen kann. Dies ist der Punkt, in dem Schopenhauer völlig von Kant abweicht. (dessen Position er ansonsten ziemlich treu vertritt). In gewissem Sinn (auch wenn er den Franzosen hier nicht nennt!) könnte man sagen, dass Schopenhauer aus Descartes‘ „Ich denke, also bin ich“ ein „Ich will, also bin ich“ macht. (Nur, dass für den Deutschen auch die Umkehrung gilt: „Ich bin, also will ich“.) Woher nimmt Schopenhauer diese ‚Kategorie‘ des Wollens? Brahman? Buddha? (Er spielt immer mal wieder auf diese an, aber die vierte seiner Wurzeln hängt meines Dafürhaltens etwas in der Luft.)

Jedenfalls sind dieses die vier Gründe unseres Erkennens nach Schopenhauer. Und so bildet sich der Mensch aus seinem Wollen und seinen Vorstellungen seine Welt. Der Text als solcher ist recht kurz, aber auch kondensiert, was Schopenhausers Argumente und Erkenntnistheorie betrifft.

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