Haidnische Alterthümer heißt die Reihe, in der dieser Roman 2008 bei Zweitausendeins erschienen ist. Oder vielleicht müsste man im vorstehenden Satz das Präteritum verwenden – Lafontaines Roman ist jedenfalls der bisher letzte in der Reihe erschienene; ein weiterer geplanter (James Fenimore Cooper: Die Monikins) erschien 2010 ausserhalb der Reihe und in einem anderen Verlag. Diese Reihe geht (oder eben: ging) zurück auf den deutschen Romancier Arno Schmidt, der in den 1950ern in einer Serie von Rundfunkdialogen und Essays verschiedene, zu seiner Zeit aus dem Bewusstsein der Leser verschwundene Romane und Romanciers (meist lobend) vorstellte. Für Schmidt bedeutete das nicht nur einen willkommenen und im Verhältnis zu seinem Aufwand lukrativen Nebenerwerb – er konnte sich zugleich seinem Publikum als belesener und kenntnisreicher Literat präsentieren. Außerdem war zu jener Zeit die Trivialliteratur weder in Vergangenheit noch in Gegenwart Materie für die ‚zünftige‘ Literaturwissenschaft – es war also praktisch niemand da, der ihm allfällige Fehler oder Ungenauigkeiten nachweisen konnte. (So auch in seinem Dialog zu Lafontaine, wo sich Schmidts Alter Ego damit brüstete, alle 100 Romane des Spätaufklärers gelesen zu haben. Heute, wo auch die Erforschung von Trivialliteratur ‚zünftig‘ geworden ist, wissen wir, dass selbst der Vielschreiber Lafontaine nur rund 80 veröffentlichte.) Die Bücher der Reihe sind hochwertig gestaltet, will sagen: Halbleinen, Fadenheftung, Lesebändchen.
Dass ich den Roman gerade jetzt wieder hervor gesucht habe, ist Bonaventura zuzuschreiben (dem Blogger, nicht dem Scholastiker), der vor kurzem sich ebenfalls an diesem Roman versuchte und die Lektüre ebenfalls abgebrochen hatte. Ich selber hatte so vage eine Zweitlektüre im Laufe dieses oder des nächsten Jahres geplant. Ich erinnerte mich von meiner ersten Lektüre, die ich damals beim Erscheinen der beiden Bände des Quinctius Heymeran von Flaming tätigte, daran, dass ich das Buch nicht ohne Vergnügen gelesen hatte. Heute weiß ich nun nicht, ob sich mein Geschmack verändert hat, ob ich die vielen Längen des Textes großzügig überblätterte, ob einfach dieses Jahr nicht der richtige Zeitpunkt gewesen ist, oder was auch immer. Tatsache ist: Ich habe dieses Mal meine Lektüre sogar sehr früh abgebrochen, ungefähr auf Seite 80.
Dabei hat der Roman gar nicht übel begonnen. Wir lernen zunächst den Vater des Titelhelden kennen – eines jener Originale, die die spätaufklärerischen Satiren der Zeit so gern vorführen: ein Edelmann, der sich weiß Gott was auf seinen Stammbaum einbildet, ja, glaubt, diesen auf das altrömische Geschlecht der Flaminier zurückführen zu können. Daneben ist er fest davon überzeugt, dass die einzige eines Edelmanns würdige Tätigkeit das Tournieren sei. Gleichzeitig vertritt er allerdings auch die Meinung, dass nur Edelleute ein Land regieren dürfen. Als ihm ein Sohn geboren wird, gibt er ihm als Vornamen je einen seiner (vermeintlichen) flaminischen Familie und einen der ältesten aus der Familie seiner Frau. Wenn es dann später um die Erziehung des Jungen geht (denn zu Beginn hat die Geschichte noch Zug und hält sich nicht lange auf), vertritt er die Meinung, dass sein Quinctius nur die Kunst des Tournierens zu erlernen habe – obwohl er genau weiß, dass Turniere schon längst vom Papst verboten wurden und sich leider auch die protestantischen Edelleute (zu denen er gehört) an dieses Verbot halten. Die Mutter (die einzige vernünftige Figur der ersten 80 Seiten) bringt den Vater mit viel Geschick und Psychologie dahin, dass doch ein Hauslehrer eingestellt wird, der dem Sohn dann unter anderem Latein beibringt. Der Vater stimmt zu, weil man ihm glaubhaft versichert, dass nur so der Junge seinen Stammbaum aus dem Livius zu entnehmen lerne. Das hält den Alten aber nicht davon ab, sich in den Lateinunterricht des Hauslehrers zu mischen, als er hört, dass der Junge offenbar vorwiegend Namen von grammatischen Begriffen lernt. Er solle, so der Vater, gleich mit dem Livius beginnen. Bei aller Satire und Übertreibung ist es hier schön zu sehen, wie Lafontaine sich hütet, die eine oder andere Unterrichtsmethode völlig zu desavouieren. Er lässt den Hauslehrer zum Schluss einen Mittelweg finden (Lektüre eines lateinischen Originaltextes, der nicht ganz so schwierig ist, wie der Livius) – und siehe da: Der Junge lernt schneller Latein, als er es mit der klassischen Methode des Hauslehrers getan hätte, oder mit der seines Vaters, die ihn heillos überfordert hätte. So weit also durchaus lesenswert und interessant.
Dann aber wird in die Familie von Flaming als Pflegekind die Tochter eines befreundeten Edelmanns aufgenommen. Und nun nimmt das Schicksal seinen unvermeidlichen Lauf. Das Mädchen ist 12 Jahre alt, Quinctius und ein in den Unterricht mit aufgenommener Bürgerssohn sind 14. Natürlich verlieben sich beide Knaben in das Mädchen. Und plötzlich wird die Geschichte zäh wie Kaugummi. Die Zeit dehnt sich, man seufzt, man leidet. Man hat auch seine Freuden, so, wenn der der Bürgerssohn mit der Freifrau in spe auf dem Sofa liegt und deren schwellenden (aber keuschen!) Busen betrachtet. Mit anderen Worten: Der Roman wird nicht nur plötzlich zäh – er wird empfindsam und (schlimmer!) lüstern. Und wo er allenfalls noch als satirisch betrachtet werden könnte, wird er ‚billig‘ – denn nichts ist einfacher als sich über die täppischen ersten Schritte in Liebe und Erotik von jungen Menschen lustig zu machen. Jedenfalls war das hier für mich der Moment, in dem ich die Reißleine gezogen habe. (Ich weiß noch aus meiner ersten Lektüre, dass Quinctius sich zu einem Menschen entwickeln wird, der überall den blonden und blauäugigen Menschen sucht, weil er ihn für den von Gott bevorzugten hält. Und ich erinnere mich auch noch, dass Lafontaine – in einem Anflug von aufklärerischer Wut – genau diesen Quinctius sich in eine edle Wilde verlieben lässt; sprich: in eine Abessinierin von dunkelster Hautfarbe. Ja, die beiden heiraten gar und werden glücklich, und bei seinem Tod muss Quinctius zugeben, dass er nie jemanden Besseres hätte finden können als seine dunkelhäutige Frau.
Wenn ich dennoch die beiden Bände zur Lektüre empfehle, ist es nicht des eigentlichen Romans wegen, sondern wegen des über 200 Seiten langen Nachworts (= Anhang) des Herausgebers Dirk Sangmeister. Darin liefert er uns nicht nur eine Biografie des ansonsten unbekannten Autors. Vor allem verortet er ihn in der Geschichte der deutschen Literatur – ihn und generell, was als „Trivialliteratur“ der damaligen Zeit zu gelten hat. Lafontaine, den heute fast kein Mensch mehr kennt, war zu Lebzeiten der bei weitem erfolgreichste Autor deutscher Sprache. Nicht nur „das Volk“ schätzte ihn, auch ein Wieland lobte ihn. In Deutschland und selbst international war er bekannter als Goethe oder Schiller. Dass er heute im Bewusstsein der Leserschaft verschollen ist, verdankt er, gemäß Sangmeister, vor allem August Wilhelm Schlegel, der – aus ideologischen wie aus ökonomischen Gründen – ein vernichtendes Urteil über Lafontaine gefällt hatte und an der Stelle des Quinctius Heymeran von Flaming Goethes Wilhelm Meister empfahl, den die Romantiker als exemplarisch für den ’neuen Roman‘ ansahen. Die Germanistik (die ja unter anderen den Brüdern Schlegel ihre Existenz verdankt!) folgte Schlegel in seinem Urteil bedingungslos. Und da Lafontaine, wie alle Erfolgsschriftsteller, nur erfolgreich sein konnte, so lange er sich mit immer neuen Werken dem Publikum immer wieder in Erinnerung rief, wurde er nach seinem Tod tatsächlich von der Leserschaft mehr und mehr vergessen (wobei noch bis ans Ende des 19. Jahrhunderts sein Name bekannt war – Theodor Fontane wurde, als er selber schon recht berühmt war, gefragt, ob er ein Sohn Lafontaines sei). Dabei war Lafontaine der erste wirkliche „freie Schriftsteller“ in Deutschland. Was Lessing nicht schaffte, brachte er zu Stande. Brachte er nolens volens zu Stande: Sein Gehalt als Militärgeistlicher (wie wir heute sagen würden) hätte hinten und vorne nicht gereicht, ihn und seine Frau zu ernähren. Während er aber zuerst zum Vergnügen schrieb, begann er im Ernst und für Geld zu schreiben, als er mit seiner Truppe im Krieg gegen das revolutionäre Frankreich ausrückte. In der Kaserne nämlich konnte er sein mageres Gehalt aufbessern mit den Gebühren, die ihm die Soldaten zu zahlen hatten fürs Ausrichten von Taufen und Heiraten. Das fiel im Feld natürlich weg. Später dann sah Lafontaine im Schreiben die Möglichkeit, dem ungeliebten Beruf zu entkommen. (Die Folgen für sein Werk waren allerdings fatal: Er wurde zum Akkordschreiber, der nicht mehr im Geringsten auf Qualität achtete – achten konnte.) Selbst Iffland und Kotzebue – die einzigen, die ihm an Beliebtheit und Verkaufszahlen halbwegs nahe kamen, waren nicht freie Schriftsteller, sondern darauf angewiesen, zusätzliches Geld als Leiter von Theatern zu verdienen. (Der in diesem Zusammenhang – nämlich als „freier Schriftsteller“ – oft genannte Lessing hat so rasch kapituliert, dass sein Versuch eigentlich gar nicht zählt.) Auf eine ihm von Friedrich Wilhelm III. versprochene Pfründe als Kanonikus musste Lafontaine lange warten. Als sie dann endlich gesprochen werden konnte, ließ Lafontaine seine Feder fallen wie ein heißes Eisen und schrieb keine einzige Zeile mehr an einem Roman … Des weiteren schildert Sangmeister auch die auf der ‚trivialen‘ Ebene immer mit ein paar Jahrzehnten Verspätung erfolgende Assimilation von intellektuellen Strömungen, die macht, dass zum Beispiel mit Lafontaine Aufklärerisches und Empfindsamkeit erst dann zur Wirkung in einem breiten Publikum kommen, als die „führenden Intellektuellen“ sich schon längst anderem (hier: der Romantik) zugewandt haben. Ein weiterer interessanter Teil des Nachworts handelt auch von der Problematik der Einteilung literarischer Werke in Hoch- und Trivialliteratur. Sangmeister tendiert dazu, die Trivialliteratur weiter zu unterteilen – zum Beispiel in gehobene Unterhaltungsliteratur (zu der er auch Lafontaine zählen würde), sozusagen ’normale‘ Unterhaltungsliteratur und schließlich die eigentliche Trivialliteratur (will hier sagen: Räuber- und Ritterromane). Sangmeister zitiert einige Vorgänger in dieser Art von Einteilung (darunter E. T. A. Hoffmann). Leider kranken alle an derselben Schwäche: Diese Unterteilungen sind zwar mit Beispielen illustriert – aber keiner der zitierten Autoren kann brauchbare (inhaltliche, stilistische, poetologische) Kriterien für eine konkrete Zuordnung eines konkreten Romans oder Romanciers angeben. Alle werden letzten Endes nach Bauchgefühl eingeteilt. So bleibt es für mich denn auch fraglich, warum Lafontaine gehobene Unterhaltungsliteratur sein soll und nicht Trivialliteratur (wohin ihn mein Bauchgefühl versetzen würde). Nur, weil keine Räuber in dessen Romanen vorkommen und keine Ritter?
Dennoch: Das Nachwort ist durchaus empfehlenswert. Lafontaines Roman braucht man hingegen nicht gelesen zu haben.
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