Im vierten Band seiner Studienausgabe hat der Herausgeber Wilhelm Weischedel die grossen und berühmten Schriften Kants zur Ethik versammelt. (Ein paar kleinere, gibt er im Nachwort zu, hat er bereits in Band 3 untergebracht – ganz einfach, weil sonst der vorliegende Band zu dick geworden wäre. Die haben wir ja schon vorgestellt.) Wir finden also hier einige der bekanntesten Begrifflichkeiten Kants eingeführt und erklärt: die Metaphysik der Sitten, die praktische Vernunft und last but not least den Kategorischen Imperativ. Alle diese Schriften sind nach der Kritik der reinen Vernunft entstanden und setzen diese mehr oder weniger implizit voraus. Weischedel präsentiert sie chronologisch in der Reihenfolge ihres Erscheinens, und so setzt Band 4 ein mit der
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [A 1785 / B 1786 – die Unterschiede zwischen A und B sind aber meiner Meinung nach vernachlässigbar]
Anders als bei den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können, in denen Kant seine Kritik der reinen Vernunft nachträglich zusammenzufassen bzw. in vereinfachter und verkürzter Darstellung zu präsentieren suchte, hat er bei seinen Schriften zur Ethik als erstes die Einführung verfasst, bevor er dann weitere, ausführlichere Texte folgen liess. (Da zwischen den Texten allerdings manchmal Jahre liegen, heißt ein Vorverweis auf (zum Beispiel) die Kritik der praktischen Vernunft in dieser Grundlegung nicht, dass dort dann tatsächlich genau das referiert wird, was Kant ein paar Jahr zuvor als „reine praktische Vernunft“ sich vorgestellt hatte.
Zunächst – und tatsächlich ist dies für das Folgende sehr hilfreich – stellt Kant einige Begriffsdefinitionen vor. Er beginnt mit einer Unterteilung der Philosophie in drei Wissenschaften: Physik, Ethik, Logik. Diese werden weiter unterteilt, denn Vernunfterkenntnis ist gemäß Kant entweder material, d.h., betrachtet ein Objekt, oder sie ist formal, d.h., beschäftigt sich mit der Form des Verstandes und der Vernunft. Formal ist die Logik, material sind die Gesetze. Gesetze entweder der Natur (dann sind wir in der Physik) oder der Freiheit (dann sind wir in der Ethik). Allerdings kann auch die Ethik einen formalen Teil beinhalten – den nennt man dann Metaphysik. Die Ethik hat andererseits sozusagen einen theoretischen und einen praktischen Zweig. Den theoretischen Teil kann man auch Moral nennen, den praktischen praktische Anthropologie. Der theoretische Teil ist eine Beschäftigung mit den Gesetzen a priori der Ethik.
In einem ersten Teil der Grundlegung hält Kant fest, dass eine Herleitung moralischer Handlungen und Haltungen aus dem alltäglichen Verständnis von Gut und Böse zu kurz greift, weil wir daraus letzten Endes keine allgemein gültigen Gesetze für das Handeln der Menschen abzuleiten vermögen. Der gute Wille ist zwar Voraussetzung, alleine genügt er aber nicht. Denn wir stoßen hier auf die Problematik einer Definition dessen, was als „gut“ gelten soll. Kant wendet sich explizit gegen den Eudämonie-Gedanken der antiken Philosophie: Moralisch „gutes“ Handeln soll nicht einfach nur das persönliche Glück des Handelnden befördern. Statt dessen führt Kant den Begriff der Pflicht ein. Der Mensch soll auch dann noch „gut“ handeln, wenn es ihm ganz eindeutig nichts bringt, denn dies ist seine Pflicht als Mensch. Der Begriff der Pflicht führt zum dem des Gesetzes: Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz. Damit sind wir auch schon bei so genannten kategorischen Imperativ, der bekanntlich verlangt, dass wir jederzeit so handeln, dass die Maxime unseres Handelns zu einem Gesetz für andere werden kann. Wobei Kant den Begriff der Maxime wie folgt definiert: Maxime ist das subjektive Prinzip des Wollens; das objektive Prinzip (d.i. dasjenige, was alle vernünftigen Wesen auch subjektiv zum praktischen Prinzip dienen würde, wenn Vernunft volle Gewalt über das Begehrungsvermögen hätte) ist das praktische Gesetz.
Damit ist die Metaphysik der Sitten als solche eigentlich abgehandelt. Zum Abschluss seines Texts weist Kant noch voraus auf das, was er hier Kritik der reinen praktischen Vernunft nennt – eine Diskussion vor allem der Diskrepanz zwischen Willen und Freiheit bzw. zwischen dem Umstand, dass wir materiell keinerlei Freiheit erkennen können, aber bei unseren Handlungen vernünftigerweise welche voraussetzen. Kant greift dafür zurück auf seine Erkenntnistheorie, nämlich den Unterschied zwischen dem Ding, das wir erkennen (das er parallel setzt zur in der Materie nicht zu findenden Freiheit), und dem Ding an sich, das jenseits unserer materialen Erkenntnis liegt, das wir aber postulieren müssen, um erkennen zu können, so, wie wir eine Freiheit des Willens postulieren müssen, um moralisch handeln zu können.
Kritik der praktischen Vernunft [1788]
Hier also die im obigen Text drei Jahre zuvor versprochene Kritik der praktischen Vernunft. Während die reine (theoretische) Vernunft Antwort auf die Frage „Was können wir wissen?“ gesucht hat, will Kant nun die Frage „Was sollen wir tun?“ beantworten.
Dafür ist es wichtig, zu beweisen, dass ein Tun überhaupt möglich ist – will sagen: das der Mensch die Freiheit hat, etwas zu wollen. Dies stellt die unabdingbare Voraussetzung dafür dar, etwas zu sollen. Kant löst das Problem der Willensfreiheit dadurch, dass er die bedingungslose Kausalität (die eine Willensfreiheit verunmöglichen würde) nur dem (nicht erkennbaren, nicht erkannten, sondern nur postulierten) Ding an sich zuschreibt. Um es salopp zu formulieren, könnte man sagen, dass die Dinge für uns unserem Willen unterworfen sind. Jetzt ergibt auch die Frage nach den ‚guten‘ moralischen Handeln einen Sinn.
Gleich zu Beginn dieses Werks weist Kant einmal mehr die eudämonischen Sittenlehren zurück. Ob moralische Grundsätze in der Erziehung gesucht werden (Kant nennt hierzu Montaigne als Zeugen dieser Vorgehensweise), in der bürgerlichen Verfassung (Mandeville), dem physischen Gefühl (Epikur) oder dem moralische Gefühl (Hutcheson): Sie irren alle, weil alle nur subjektive Gründe anführen. Die Stoa oder auch christliche Theologen sind auf besserem Weg, da sie eine objektive Begründung der Moral versuchen. Objektive Begründungen – Kant spricht dann von Gesetzen – sind solche, die für jeden vernünftigen Willen maßgeblich sind. Da Kant das subjektive Gefühl (und auch den subjektiven Vorteil, den jemand aus einer Handlung ziehen könnte) verwirft, wird er einmal mehr auf den kategorischen Imperativ zurückgreifen:
Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.
§ 7 Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft, A 54
Letzten Endes also wiederum die bereits im früheren Text (s. o.) angesprochene Pflicht-Ethik, die jedes Individuum zum Richter seiner selbst macht und ihn verpflichtet, in ständiger Arbeit an unbehauenen Stein sich moralisch zu perfektionieren.
Zum Schluss der Kritik der praktischen Vernunft sieht sich Kant gezwungen, auf die vermeintlich unumgängliche Konsequenz jeder Sittenlehre einzugehen: Es gibt einen idealen Stand der sittlichen Perfektion, einen zu 100% sittlichen Zustand. Der Mensch kann diesen allerdings zu Lebzeiten nicht erreichen – weshalb er gemäß Kant einen Zustand nach dem Tod imaginiert, in dem er dies tun kann: ein ewiges Weiterleben. Und da es – immer noch gemäß Kant – wenn es nicht perfekte Willensäußerungen gibt, es auch einen zu 100% bereits sittlich vollkommenen Willen geben muss, wird auch ein göttlicher Geist postuliert, der eben diesen Willen vorstellt. Womit er die Religion zumindest als sittliches Postulat gerettet hat, auch wenn er darauf beharrt, dass eine Existenz Gottes ja in keiner Weise irgendwie bewiesen werden könne.
Die Metaphysik der Sitten [1797]
Auf die Theorie, die Kritik der praktischen Vernunft ließ Kant folgerichtig die Praxis folgen – die Metaphysik der Sitten. Diese wiederum teilte re in in zwei Teile auf – einen mit der Praxis als Zwang von außen, dem Recht; einen mit dem Zwang von innen, der Pflicht als der eigentlichen Ethik. (Diese Teile waren tatsächlich zwei selbständige Bücher, was dann dazu führte, dass nur bei der ersten Auflage beide Teile zusammen erschienen; bei der zweiten war es so, dass Teil 1 schon ein Jahr nach der ersten Auflage die zweite erlebte (1798), und wohl auch noch von Kant überarbeitet, während Teil 2 erst 1803 folgte, und, was dort in Bezug auf die erste Auflage geändert war, wahrscheinlich nicht mehr von Kant stammte.)
Dass Kant mit dem Recht beginnt, ist durchaus konsequent, ist doch der Grundsatz der Ethik, der kategorische Imperativ der Satz, dass ich jederzeit so handeln soll, dass mein Handeln als Gesetz für alle übernommen werden könnte, und vom Gesetz zum Recht ist es nur ein Schritt.
Die Rechtsphilosophie von Teil 1 behandelt grosso modo die ganze Rechtspflege der Zeit, beginnend mit einer Definition des Begriffs ‚Recht‘ als der Befugnis Dritter, mich zu zwingen. Daraus gibt es kein Entrinnen – ja, Kant hält explizit fest, dass es für einen Bürger nicht einmal die Möglichkeit gibt, sich gegen seinen Herrscher aufzulehnen. (Damit hat er natürlich zugleich ein Problem der politischen Philosophie gleich radikal vom Tisch geschoben: die Frage, ob es moralisch erlaubt oder gar rechtens sei, einen Tyrannen umzubringen. Seine Antwort ist ganz klar: Tyrannenmord ist weder rechtlich noch sittlich erlaubt.) Die Frage der verschiedenen Staatsformen streift Kant dann nur im Vorbeigehen – er scheint aber die Regierung durch einen König als Normalfall vorauszusetzen.
Vieles der folgenden Rechtsphilosophie behandelt die Fragen des Mein und des Nicht-Mein. Wie wird etwas zu Beginn wohl herrenloses zu meinem Besitz? Wie grenze ich meinen Besitz ab? Was kann mein Besitz sein? Und was nicht? So kann ich als Mann keinen anderen Bürger besitzen, in gewisser Weise aber doch meine Dienstboten, ja meine Frau und meine Kinder. Zum Abschluss, im Strafrecht, entpuppt sich Kant als strikter Anhänger des ius talionis – des Vergeltens von Gleichem mit Gleichem. Mit anderen Worten: Er befürwortet die Todesstrafe als einzig mögliche Strafe für Mörder.
Im Großen und Ganzen muss man also sagen, dass dieser Teil der Metaphysik der Sitten schlecht gealtert hat. Kant zeigt sich hier als Kind seiner Zeit, obwohl er vorgibt, zeitlich und örtlich unabhängige Voraussetzungen der Rechtssprechung darzustellen.
Ein wenig besser sieht es im zweiten Teil aus, der eigentlichen Ethik, oder wie sie Kant in Anlehnung an den zeitgenössischen Sprachgebrauch nennt, der Tugendlehre, obwohl er auch hier mit für uns Heutige seltsam klingenden Rechtfertigungen solche Dinge wie Homosexualität, Onanie oder auch nur außer- bwz. vorehelichen Geschlechtsverkehr als unmoralisch definiert. Dasselbe gilt für den Selbstmord. Im Übrigen lehnt Kant die Definition der Tugend als ein Suchen der Mitte zwischen zwei Extremen, wie sie seit Aristoteles in der Ethik meist zu finden war, völlig ab. Zwar predigt auch er eine gewisse Apathie, wie er es nennt – eine relative Fühllosigkeit gegenüber körperlichen oder geistigen Genüssen jeder Art. Nur so ist es seiner Meinung nach möglich, ein Abgleiten in Extreme zu vermeiden.
Den Abschluss der Ethischen Methodenlehre macht eine ethische Didaktik. Hier versucht sich Kant, der sonst den Namen des Sokrates in allen seinen ethischen Schriften nicht einmal nennt, wenn ich das richtig gesehen habe, in einer Art sokratischem Dialog, um nachzuweisen, dass die ethischen Grundbegriffe schon in Kindern vorhanden sind. Nun war zumindest der frühe Platon auch ein literarischer Künstler, der solche Dialoge mit einigem Anschein an Natürlichkeit zu schreiben vermochte. Kant ist das nicht, und am besten breiten wir einen Mantel des Schweigens über diesen Teil der Metaphysik der Sitten.
Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen [1797]
Dieser kleine Aufsatz, erschienen in den Berlinischen Monatsblättern ist deshalb interessant, weil Kant – so weit ich sehe – nur hier auf das berühmt gewordene Beispiel eingeht des Mannes, der einen Freund vor dem Tod retten kann, indem er dem Mörder, den er zufällig vor des Freundes Haustüre antrifft, wider die Wahrheit angibt, dieser sei nicht zu Hause. Die Frage stellt sich: Darf der Mann dies nach ethischen Grundsätzen?
Das Beispiel wird immer wieder auf Kant zurückgeführt, ist aber in seinen Schriften nie angeführt worden. Es gibt ähnliche Beispiele, aber sie alle haben zum Hintergrund, dass der lügende Mann nicht einen Vorteil, ja das Leben, für einen Freund durch seine Lüge herausholt, sondern einen für sich selber. In einer Fussnote wird das Beispiel auf den Philosophen Michaelis zurückgeführt, gleichzeitig aber (von Kramer) behauptet, Kant habe es später ebenfalls verwendet. In einer Fussnote zur Fussnote gibt Kant zu, sich nicht daran zu erinnern, aber gesteht, es könnte von ihm ebenfalls gesagt worden sein.
Der Pflichtethiker Kant kann nicht anders, als zu verneinen, dass diesem Mann vor der Haustüre des Freundes eine Lüge gestattet sei. (Unter anderem mit den sehr seltsamen Begründungen, dass ja der Freund unterdessen das Haus verlassen habe könnte und dem durch die Lüge in die Irre geführten Mörder nun gerade erst in die Hände falle. – Man könnte Hunderte solcher Argumente pro und contra ersinnen. Hier setzt Kant ganz eindeutig Konsequenz in der Theorie vor die praktische Ausführbarkeit.)
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft [1793]
Mit dieser Schrift eckte Kant bei seinem König an. Der hieß seit 1786 nicht mehr Friedrich II., sondern Friedrich Wilhelm II. und regierte bedeutend weniger aufgeklärt als noch sein Onkel. Friedrich Wilhelm II: hatte die Zensurmaßnahmen verschärft, ebenso die Kontrolle über das Religionswesen. Kant durfte vorliegenden Text nicht mehr in Preußen veröffentlichen. Doch dieses Ausweichen auf ausländischen Boden half ihm insofern nichts, als ihm 1794 per Kabinettsorder (also direkt vom König) verboten wurde, weitere derartige Beiträge in der Berlinischen Monatsschrift (die unterdessen ja auch ausgewandert war) zu veröffentlichen.
Wenn man die Schrift liest, fragt man sich allerdings zunächst einmal, was denn Friedrich Wilhelm II. an ihr auszusetzen hatte. Der Text besteht aus vier Teilen (Stücken) und in den ersten drei unternimmt Kant ’nur‘ den Versuch, die Dogmen der Religion (also vor allem des Christentums) als eine Art allegorisch verkleidete, ethisch-philosophische Imperative und Verhaltensregeln zu definieren – Dreifaltigkeit inklusive. Die Religion, die christliche Religion, ist demnach also vernünftig. Erst im vierten Stück lässt Kant die Katze ganz aus dem Sack: Wenn dem so ist, wie in den ersten drei Stücken festgehalten – wozu braucht es die Institution der Kirche mit ihrem Pfaffenwesen? In seinem Angriff auf die Kirche, die sich in unnützen Dogmen verliert, sich an Äußerlichkeiten festklammert, die einem Seelenheil nichts bringen, zielt Kant nicht nur auf die katholische Kirche oder auf irgend eine religiöse Institution irgendeines Glaubens – er zielt ganz offen auch auf die protestantische Kirche in Preußen. Das konnte der König natürlich nicht durchlassen.
Von diesem historischen Gesichtspunkt abgesehen aber – also aus einem rein philosophischen Gesichtspunkt betrachtet –, bringt diese Schrift nichts, das im 21. Jahrhundert noch relevant oder wichtig wäre.
Damit endet der vierte Band von Weischedels Auswahlausgabe.
1 Reply to “Immanuel Kant: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie”