Diskussionskultur einst und jetzt: Bemerkungen zu „Imanuel Geiss: Die Habermas-Kontroverse“

Ein Jahr vor der Wende zog Imanuel Geiss ein erstes Fazit des unerquicklichen Historiker-Streits – in der Hoffnung, damit zur Beruhigung und Versachlichung der Auseinandersetzung beizutragen. Seine eigene Position im politischen Spektrum bezeichnet er dabei als „links der Mitte“, wenngleich er aufgrund erster Wortmeldungen dem neokonservativen Lager zugezählt wurde – zu Unrecht.

Zum Streit an sich finden sich keine neuen Erkenntnisse: Habermas hatte offenbar bewusst falsch zitiert, die Zitate aus dem Zusammenhang gerissen und auf irreführende Weise gekürzt oder suggeriert, dass von den Historikern referierte Meinungen als die der Autoren erschienen. Mit redlichem, wissenschaftlichen Arbeiten hatte das alles nichts zu tun, es war ein Versuch, auf polemische Weise eher konservativen, keineswegs aber extrem rechts stehenden Historikern am Zeug zu flicken. Was diese ganze Auseinandersetzung aber paradigmatisch für die 70er und 80er Jahre des letzten Jahrhunderts macht ist die Form der Diskussion; der keineswegs zu Unrecht erhobene Vorwurf an viele Intelektuelle, auf dem linken Auge blind zu sein, führte unter diesen Linken dazu, jede auch nur irgendwie abweichende Meinung unter den Verdacht zu stellen, damit revisionistischem, neonazistischen Gedankengut zu huldigen. Wie es überhaupt schwer war, Diskussionen zu führen, ohne unter Ideologieverdacht gestellt zu werden oder sich mit dem Vorwurf konfrontiert zu sehen, ein falsches Klassenbewusstsein zu besitzen, wodurch man das Recht auf Diskussionsteilnahme schon verwirkt hatte (für das Gegenüber unangenehme Argumente wurden dem bürgerlichen Denken zugezählt und durften daher ignoriert werden). Ich kann mich an nicht wenige Auseinandersetzungen erinnern, in denen mir dieses „falsche Bewusstsein“ unterstellt wurde (dem ich von meiner Herkunft mitnichten angehörte), wobei das, was ich für bloße Logik, Rationalität hielt, als bourgeoises Vorteil abgetan wurde. Wie eng der Dogmatismus des Katholizismus (in dem ich aufgewachsen war) und der des Marxismus-Leninismus (und seiner Varianten der Frankfurter Schule) verwandt waren, ist mir durch die Auseinandersetzungen dieser Art klar geworden.

Ich war – wie die vorerwähnten Historiker – wahrscheinlich anfangs ebenso erstaunt, manchmal als politisch rechts eingeordnet zu werden. Wobei ich eine dezidierte Einordnung in dieses Rechts-Links-Schema für meine Person nie vorgenommen hatte, ich fühlte mich einfach jenen Parteien und Bewegungen verbunden, die sich für die Schwächeren der Gesellschaft einsetzten (oder dies zu tun vorgaben). Das hatte weniger mit Politik als mit Mensch-Sein zu tun. Nie aber habe ich verstanden, wie man in jener Zeit das Loblied des kommunistischen Blockes singen konnte: Es war offenkundig, dass es sich um Diktaturen handelte, in denen ich ganz sicher würde weniger frei sprechen können als im Westen. Dabei war es prinzipiell unmöglich, differenziertere Positionen zu vertreten: Kritik am Ostblock implizierte das Lob des kapitalistisch-imperialisten Westens (und umgekehrt: Die Mittelamerikapolitik der USA zu verurteilen bedeutete, im kommunistischen Lager zu stehen). Geiss beschreibt im Buch diesen dualistischen Fundamentalismus und der daraus resultierenden Konsequenz absoluter Unversöhnlichkeit der Lager. Wer sich im Besitz der Wahrheit glaubt, muss jede – wenn auch gemäßigte Ansicht – als einen Angriff auf diese Wahrheit ansehen. Und eine politische Mitte, wie sie Geiss propagiert, kann es in diesem manichäischen Weltbild per definitionem nicht geben: Weshalb etwa ohnehin schon weit rechts oder links stehende Personen in den Extremismus abgedrängt werden. Tatsächlich aber ist die Welt nicht – wie in Kinderbüchern oder Hollywood – in Gut und Böse unterteilt, die Welt ist mannigfaltig und nuancenreich und Ansicht können und sollen geändert werden: Angesichts neuer Informationen, einer geänderten Faktenlage (es erübrigt sich, auf die Aktualität dieser Sätze hinzuweisen).

Das Buch von Geiss erschien 1988 – und was der Anfang einer Diskussion über Deutschland und seine Vergangenheit, über „Weimar“ (das klassische, nicht das politische) und Auschwitz hätte sein sollen, darüber, was Deutschland mit und trotz seiner Vergangenheit als ein Land einbringen könnte in den politischen Diskurs, war gleichzeitig das Ende. Denn ein Jahr später war niemand mehr des Revisionismus oder neofaschistischer Ansichten verdächtig, der von einem geeinten Deutschland sprach, für relativ kurze Zeit war dies fast eine patriotische Pflicht. Und linke Theoretiker hatten einen schweren Stand, waren kleinlaut geworden, während liberal-kapitalistische Denker das Ende der Geschichte ausriefen. Im übrigen habe ich weder diese noch auch (und in stärkerem Maße) jene (die Marxisten) wirklich verstanden, was den Zusammenbruch des Ostblocks anlangt: Denn die Linke bewies mit ihrem betretenen Schweigen, dass sie offenbar tatsächlich in den kommunistischen Staaten eine wenigstens teilweise Verwirklichung ihrer Ideale gesehen hatte. Das war und ist mir noch viel unbegreiflicher als ein Anhänger des theoretischen Marxismus mir erscheint: Von diesem Ideal einer wunderbaren Gleichheit sich umarmender Menschen zu träumen ist verständlich und legitim (wenn auch blauäugig), hingegen zeugt(e) es von Dummheit und Ignoranz, in der DDR, in der Sowjetunion Staatsgebilde zu sehen, die Freiheit und Gleichheit verwirklicht hätten. Ein wirklicher Marxist müsste von dieser Wende im Grunde gänzlich unberührt sein, er darf seinen Idealen weiterhin nachhängen, weil noch nirgendwo auch nur ansatzweise der Versuch unternommen wurde, sein Ideal umzusetzen (wobei: Selbst eine von uneigennützigen und lauteren Motiven getragene Umsetzung würde wohl kurz oder lang in einer diktatorischen Zwangsbeglückung enden).

Die Aktualität ist – wie bemerkt – offendkundig, wenn auch die Sehnsucht nach einfachen Wahrheiten heute von anderen Akteuren bedient wird (man läuft nun nicht mehr Gefahr, des durch die bürgerliche Gesellschaft vermittelten „falschen Klassenbewusstseins“ geziehen zu werden). Der Unterschied besteht (u. a.) in einem Wandel der Medien: Waren früher Stammtische oder Studentenzirkel Orte der Auseinandersetzung, so ist es heute das Netz. Mit dem bekannten Blaseneffekt: Denn selbst in Dorfgasthäusern konnte man einst nicht sicher sein, auf das sehnsuchtsvolle „ein kleiner Hitler müsste wieder her“ nicht doch energischen Widerspruch zu ernten und sich tatsächlich mit der Dummheit dieser Bemerkung auseinandersetzen zu müssen. Jegliche Widerrede zu ignorieren fällt nun nicht nur leichter, sondern wird algorithmisch unterstützt und bewerkstelligt, sodass man selbst mit den absurdesten Überzeugungen nicht allein stehen muss.

Aber es war früher nicht besser, noch nicht einmal wirklich anders: Die Sehnsucht nach Ideologie, Religion, Gewissheit, nach einer Welt, die fein säuberlich in Gut und Böse geschieden werden konnte und in der die Bösen daran zu erkennen waren, dass sie mit mir nicht einer Meinung waren oder einfach nur diskutieren wollten, war genauso groß, einzig die Glaubensinhalte haben sich gewandelt (trotz aller Dogmatik und der Versuche, genau diesen Wandel zu verhindern). Je nach Machtverhältnis kann man sich dann über den Gegner ärgern, ihn ignorieren oder aber erschießen lassen. Die fortgesetzten Versuchen, mit rationalen Argumenten zu überzeugen, das Für und Wider von Positionen abzuwägen, auf logische Inkonsistenzen hinzuweisen und daraus Schlüsse zu ziehen wirken so hiflos und ineffektiv wie eh und je. Nur der Inhalt der Überzeugungen unterliegt einem beständigen Wandel (was nicht hindert, dass längst vergessene und obsolet erscheinende Auffassungen eine Renaissance erleben – bis hin zur Scheibenwelt): Religionen, Ideologien, Mythologien wechseln sich ab im Anspruch, die letzte unwandelbare und endgültige Wahrheit zu verkünden. Und wenn man Pech hat, wird schon das auf Logik und Rationalität beruhende Argument, die Rationalität selbst dem Bösen zugeschlagen und immunisiert auf diese Weise die Verkündungen der Propheten.


Imanuel Geiss: Die Habermas-Kontroverse. Ein deutscher Streit. Berlin: Siedler 1988.

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