Ansary kam 1948 in Kabul (Afghanistan) als Sohn einer amerikanisch-finnisch-jüdischen Mutter und eines afghanischen Vaters zur Welt. Er wuchs in Afghanistan auf, kam aber offenbar von Anfang an in den Genuss einer Erziehung, die östliche wie westliche Werte vermittelte. So kam es, dass er offenbar lokale Schulen besuchte, aber auch ihn besonders faszinierende Geschichtswerke auf Englisch las – ja, sogar durch ein Treffen mit Arnold J. Toynbee geehrt wurde, als dieser die Region besuchte. Die auf persisch verfassten lokalen Geschichtsbücher seiner Schule fand der junge Tamim hingegen offenbar langweilig. Heute lebt Ansary in den USA, in San Francisco.
Ich werde im weiteren Verlauf dieses Aperçu die Begriffe „östlich“ und „westlich“ als Kürzel und Synonyme verwenden für „asiatisch + islamisch“ einerseits, „europäisch + christlich“ andererseits – immer im Bewusstsein, dass das im Grunde genommen eine schlimme Verkürzung der Tatsachen ist, indem weder Asien einfach islamisch ist noch der Islam einfach asiatisch. Und für Europa und das Christentum gilt ähnliches. Ich habe diese Einteilung abgeleitet von einer ganz früh in diesem Buch durch Ansary selber eingeführten Einteilung der „Welt“ in die Welt des Mittelmeers (in der die Handelsbeziehungen vor allem Beziehungen über Seewege waren, eben über das Mittelmeer), und in eine Welt der Mitte, östlich davon gelegen, in etwa das abdeckend, was wir in Europa als „Naher Osten“, „Mesopotamien“ und „Indien“ bezeichnen – eine Welt, die sich nicht nur geografisch unterscheidet, sondern auch dadurch, dass in Ermangelung eines größeren Gewässers die Handelsbeziehungen (und damit sind natürlich im Osten wie im Westen auch die übrigen „internationalen“ Beziehungen betroffen) durch Landwege bestimmt waren. Diese Einteilung entspricht in etwa dem Herrschaftsgebiet des alten Rom zur Zeit seines imperialen Höhepunkt einerseits und dem gleichzeitigen persischen Großreich andererseits. Sie ist – worüber Ansary sich ausschweigt – cum grano salis zu verstehen. Zum Westen gehören, spätestens seit deren Eingreifen in den Ersten Weltkrieg, auch die USA; während die südlichen Gestade des Mittelmeers schon früh zu islamischen Reichen bzw. Nationen gehört haben und bis heute gehören. Die beiden Regionen treffen sich nach Ansary aber am Ostufer des Mittelmeers, in jener Gegend, die wir Europäer den „Nahen Osten“ nennen, und der, wieder Ansary, schon immer heiß disputiertes Gebiet war.
In seinem Buch verspricht uns Ansary eine andere Geschichte – oder, besser gesagt: die gleiche Geschichte aus anderer Sicht, der des Islam nämlich. Denn auch der Islam hält seine Weltsicht und seine Geschichte der Welt natürlich für die zentrale – mit genau demselben Recht, wie es auch der Westen mit seiner Geschichtsschreibung tut. Ansarys Buch ist 2009 in den USA erschienen; die Übersetzung von Jürgen Neubauer erschien 2010 im Campus-Verlag 2010. 10 Jahre seit dem Erscheinen sind eine lange Zeit – jedenfalls in den Teilen, die die Situation der Gegenwart darstellen und analysieren wollen. Dafür kann Ansary nichts.
Leider ist der Text aber auch sonst etwas ungleichmäßig geraten. Ansary hat nach eigenem Zeugnis schon als Junge Geschichtswerke geliebt, die eben nicht nur Geschichte referierten (wie offenbar seine annalen-mäßig aufgebauten persischen Schulbücher), sondern Geschichten erzählten. Das tut er dann auch selber hier. Das alleine kann man ihm nicht zum Vorwurf machen – das Buch entstand aus einer Reihen von Radio-Sendungen und ist demnach ein populärer Text, kein historisches Fachbuch. Ansary will nach eigenen Angaben dem Westen die Geschichte der letzten rund 1’500 Jahre aus der Sicht des Islam erzählen, mit dem Schwergewicht auf jener Mitte der Welt, die gleichbedeutend ist mit der Welt, in der der Islam die herrschende Religion darstellt. Das ist gleichzeitig auch die Geschichte des Islam. Der Westen, so Ansary, hat diese Welt kaum in Betracht gezogen bei der Schreibung seiner eigenen „Welt“-Geschichte – es wird sich im Laufe des Buchs zeigen, dass das umgekehrt ebenso war.
Ansary beginnt bei Mohammed in Mekka und der Hidschra (dem Auszug nach Medina). Diesen Teil der Geschichte und auch noch das folgende Kalifat beschreibt er in aller Ausführlichkeit – und tatsächlich eher wie eine Geschichtenschreiber, denn wie ein Geschichtsschreiber. Schon die Spaltung, die Schia, wird weniger ausführlich behandelt, die Verlagerung des Mittelpunkts des Islam von Arabien nach Persien noch weniger. Bei der Schilderung der Zeit der Auseinandersetzung zwischen den Gelehrten, den Philosophen und den Mystikern fängt er zum ersten Mal an, über die Ereignisse hinweg zu schludern. Ohne dass seine Leserschaft erfährt, wie und warum genau, ist plötzlich eine Einheit zwischen Gelehrten und Sufi-Mystikern da und die Philosophen, die eine Art mittelalterliche Aufklärung innerhalb des Islam vertraten, sind stillschweigend verschwunden. Doch das Buch umfasst nur knappe 350 Seiten – irgendwann muss der Autor die erzählte Zeit kürzen. Ähnliches geschieht wieder bei der Schilderung der sozialen und ökonomischen Strukturen des Osmanischen Reichs – er deutet zwar eine ungeheuer komplexe Verflechtung von staatlichen und privaten Institutionen an, bleibt aber letzten Endes an der Oberfläche. Noch unpräziser wird Ansary bei der Darstellung, wie der „kranke Mann am Bosporus“, das absterbende Osmanische Reich, von den westlichen Nationen (inkl. Russland) unterhöhlt wird. Mehr als eine Andeutung, dass dies ein sehr komplizierter Prozess gewesen sei, erfährt man nicht. Solches lässt für mich nur zwei Schlussfolgerungen zu: Entweder der Autor hielt seine Leserschaft für zu dumm und zu wenig interessiert, um komplexeren Erörterungen zu folgen, oder – er verstand selber seine Quellen nicht gut genug, um sie konzise zusammen fassen zu können. Der Schluss, mit einer Auflistung aller Fehleinschätzungen der Situation in den islamischen Staaten durch die USA, Großbritannien und Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg bis hin zur Ära Bush, ist zwar korrekt, aber wie gesagt – 10 Jahre später sind die USA an einem ganz anderen Ort und der Terror der Islamisten ebenfalls.
Vieles bleibt also unbefriedigend an diesem Buch. Die Stellung der Frau, die ursprünglich auch als Gelehrte auftragen oder als Heerführerinnen und dann plötzlich ins Innere des Hauses verbannt wurden: Gab es da wirklich keinen Widerstand von weiblicher Seite, wie es Ansary suggeriert? Oder übernimmt er hier einfach ein männliches Narrativ? Wenn man auf der anderen Seite seine Argumente zusammen dampfen lässt, will es mir scheinen, als ob er den Islam als eine Religion und vor allem als eine Gesellschaftsform darstellt, die ihre Daseins-Rechtfertigung aus dem Umstand steten Wachsens bezieht (also ähnlich wie der Kapitalismus). Stagnation oder gar Rückgang stürzen den Islam, stürzen die islamischen Staaten, in eine Krise. Aus dieser Krise gibt es nur zwei Auswege. Der eine, vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts öfters eingeschlagene ist der der Bildung einer laizistischen Gesellschaft (was nicht gleichbedeutend ist mit einem demokratischen Staat: laizistisch war Kemal Atatürks Türkei ebenso wie Persien unter Rezah Pahlavi); der andere (der zugleich eine Reaktion auf das Scheitern der laizistischen Staaten sein konnte, da diese oft nur überlebten, indem die Herrscher wichtige Stellen im Staat oder wichtige Ausfuhrgegenstände wie Erdöl in westliche Hände vergaben – auch hier wird von Ansary nur dargestellt, nicht geklärt, wie alle diese Leute aus dem Westen im Iran oder in Indien an die wichtigen Schalthebel der Macht gelangen konnten, ohne nominell die einheimischen Regimes ihrer Funktion zu entheben und ohne einen Schuss Munition abfeuern zu müssen) – die andere Reaktion also war eine Rückbesinnung auf den ursprünglichen Islam. Wir kennen das auch von europäischen Staaten, bei denen in Krisensituationen immer wieder reaktionäre Strömungen an Bedeutung gewinnen. Im Islam ist es aber auch gemäß Ansary eine der Kernfunktionen, dass ein Krieg gegen außen, ein Dschihad, etwas vom Verdienstvollsten ist, das der Muslim ausführen kann. Reaktionärer Islam (meist werden die verschiedenen dort zu findenden Strömungen unter dem Begriff des „Islamismus“ zusammen gefasst) ist also immer Religion im Angriff. Wohl sagt Ansary, dass islamische Splittergruppen Splitter sind von Splittergruppen, die von einer Splittergruppe abgesplittert sind. Aber warum hört man dann kaum gemäßigte Stimmen? (Ich rede jetzt nicht von Autoren und Denkern – ich rede von der Politik.) Ansary wirft nicht einmal die Frage auf.
Dennoch ein nicht uninteressantes Buch. Es dürfte aber an vielen Stellen bedeutend mehr in die Tiefe gehen und sich um Details bemühen – dafür nähme ich gern einen doppelten oder dreifachen Umfang in Kauf.
2 Replies to “Tamim Ansary: Die unbekannte Mitte der Welt”