Friedrich Glauser gehört zu den drei bedeutendsten Schweizer Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er steht hier in einer Reihe mit Charles Ferdinand Ramuz und Robert Walser. Doch während wir vom Westschweizer Ramuz doch schon einen Roman vorgestellt haben, sind die beiden Deutschschweizer bis anhin sträflich vernachlässigt worden. Gerade mal eine Art Biografie von Walser und von oder zu Glauser noch gar nichts. Mit der Vorstellung dieses Buchs hier soll nun auch ihm zumindest ein bisschen Gerechtigkeit zukommen.
Anders, als es der Titel vermuten lässt, finden wir hier nicht nur Texte von Friedrich Glauser. Es sind genügend Briefe von ihm, um seine Entwicklung als Mensch und als Autor in der Periode von 1911 bis zu seinem Tod 1938 nachvollziehen zu können. Es finden sich aber auch und zum größeren Teil Dokumente Dritter über oder an ihn. Das ist keine Kritik, denn diese Dokumente sind – auch jenseits einer Beschäftigung mit Glauser direkt – in ihrer Art sehr spannend. Also viele Briefe und – erstmals in der Rezeptionsgeschichte Glausers – Aktennotizen und Briefe der Amtsvormundschaft Zürich, der Glauser 20 Jahre lang unterstellt war.
Bei der Lektüre dieses Buchs haben sich mir rasch zwei Aspekte in den Vordergrund gedrängt. Da ist zum einen die völlige Willkür, mit der vor rund 100 Jahren die Behörden mit einer Person umgingen, die einmal in die Mühlen der Bürokratie geraten war und als psychisch oder moralisch lebensuntüchtig abgestempelt wurde. Sicher, Glauser hat sich kleine Diebstähle und sogar Unterschriftenfälschungen zu Schulden kommen lassen, weil, nun ja, er war abhängig von Opium und Opiumderivaten – mal mehr, mal weniger. Mal brauchte er sie als Stimmungsaufheller, mal aber auch, um schreiben zu können. An seiner Sucht trägt aber nicht zuletzt auch die damalige Medizin schuld, die Opium in heute unvorstellbaren Dosen nicht als Schmerz-, sondern als Heilmittel verwendete – was jedenfalls bei Friedrich Glauser darin mündete, seine Disposition zur Sucht zu stimulieren und ihn in die Abhängigkeit führte. An seinen Delikten wiederum ist der als Erzieher versagende Vater sicher nicht unschuldig. Nur, dass zu jener Zeit niemand sich traute den Professor an einer Handelshochschule auch nur eine Sekunde lang solcher Unfähigkeit zu verdächtigen. Und die Art und Weise, wie über Friedrich Glauser bestimmt wurde, wie er vom Staat verurteilt wurde, ohne je vor einem Richter zu stehen, wie er kaum Selbstbestimmungsrecht hatte, nachdem ihn der Vater denunziert hatte – Wohnort, Partnerschaften, Einweisungen in Kliniken und Strafanstalten wurden von Amtes wegen und ohne richterliche Urteile bestimmt oder zumindest kontrolliert – diese Art und Weise stimmt auch heute noch nachdenklich. Sein Amtsvormund war, wenn ich das richtig sehe, weder Jurist noch Mediziner, und die damalige Psychatrie betrachtete ihre Patienten mehr als willkommene Versuchskaninchen, denn als Menschen. Kontrolle durch übergeordnete Instanzen gab es keine. (Wer mir jetzt sagt, dass das schon lange Vergangenheit ist und wir heute, 100 Jahre später, über Kontrollen verfügen: Wir tun das auch heute nur teilweise. Wer zum Beispiel je versucht hat, mit einer schwer diagnostizier- bzw. nachweisbaren Krankheit finanzielle Hilfe der Invalidenversicherung zu erhalten, wird feststellen, dass die Vertrauensärzte dieser Versicherung auch heute noch unhinterfragt Diagnosen von Kolleg:innen in Frage stellen oder über den Haufen werfen können und so Gott spielen über die finanziellen Verhältnisse der Patient:innen, die sie als Mediziner gar nicht beurteilen dürften. Dieser – ich nenne ihn den „amtsvormundschaftlichen“ – Teil des Buchs ist mutatis mutandis noch heute aktuell.)
Ebenso interessant ist aber auch die Entwicklung des Autors Glauser. Vor allem seine Gedanken zum Kriminalroman, die er in den 1930ern zu entwickeln begann, zeigen, dass er seinen Wachtmeister Studer sehr überlegt einführte und so einführte, wie er es tat. Der bis heute ad nauseam hervor gesuchte Vergleich von Glausers Kriminalromanen mit den Maigret-Romanen Simenons stammt zwar von Glauser selber; aber Glauser wurde sich auch sehr rasch der bedeutenden Unterschiede bewusst, die ihm vom Belgier mit dem Pariser Kommissar trennen. Er kannte und studierte auch seine englischen Kolleg:innen – Chesterton, Christie und Sayers. Er wollte mit seinen Studer-Romanen zwar keine hochstehende Literatur verfassen (dieses Genre sah er bedient mit seinem Roman Gourrama, in dem er seine Erlebnisse in der französischen Fremdenlegion verarbeitete), aber es sollte gute Literatur sein zu einem Preis, der auch dem einfachen Menschen erlaubte, sein Buch zu kaufen.
Wie sehr Glauser mit Worten spielen konnte, zeigen viele Briefe, zeigt auch der Titel dieses Buchs. Jeder sucht sein Paradies ist ein Zitat aus einem seiner Briefe. Glauser spielt damit gleichzeitig auf eine (die) Erlösung als solche an, in einem metaphysisch-religiösen Ursprung aber ins weltliche gewandelt; er spielt damit aber auch auf einen seiner literarischen Lieblinge an: Baudelaire, der bekanntlich einen Aufsatz zu den künstlichen Paradiesen geschrieben hatte (und damit vor allem Opium meinte – nach dem auch der Franzose süchtig war).
Und nicht nur inhaltlich vermag das Buch zu überzeugen. Es ist auch von philologisch-editorischer Seite her qualitativ hervorragend gemacht. Auch Buch-handwerklich ist es ’state of the art‘: Leinen, Fadenheftung und (ich erwähne es, weil ich weiß, dass es welche gibt, die das für das nec plus ultra der Buchgestaltung halten …) Lesebändchen. Ebenso ist der Rest grafisch-gestalterisch gelungen: Fotografische Reproduktionen von Dokumenten wechseln ab mit Fotografien Glausers (vor allem in seinen späteren Jahren). Die Großkapitel sind eingeleitet mit Illustrationen von Hannes Binder. Nach einer kurzen Einleitung ins jeweilige Großkapitel ist der Text zweispaltig gesetzt – genauer gesagt, finden wir in der inneren, bedeutend breiteren Spalte den eigentlichen Text und in einer äußeren, als Marginalie im eigentlichen Sinn des Worts, die Anmerkungen zu Personen, zitierten Werken oder Orten, so dass sich ein Blättern ans Ende des Buchs jeweils erübrigt. Diese Anmerkungen sind kurz, aber präzise.
Die 5 Großkapitel lauten im Inhaltsverzeichnis:
I. 1911-1924. «Ich habe nicht bloss gebummelt, sondern mich litterarisch betätigt»
II. 1925-1932. «Hauptsache ist, dass die Gedanken nicht stehenbleiben»
III. 1933-1936. «Ich plane eine Serie Schweizer Kriminalromane»
IV. 1936-1937. «Ich bin kein ‹Düchter›»
V. 1938. «Das Wichtige erscheint erst später»
Es folgen noch Nachwort und Anhang – ersteres informativ, letzterer versehen mit allem Schnick-Schnack, den man von einem wissenschaftlich brauchbaren Anhang verlangt: Standortverzeichnis, Bildnachweise etc. etc. Da schlägt des Philologen Herz doch höher! (Und: Ja, Glauser hat – vor allem in seinen frühen Jahren – ‚Litteratur‘ oft mit zwei ‚t‘ geschrieben. Was wohl auch seiner Zweisprachigkeit (er sprach und schrieb fliessend Deutsch und Französisch) geschuldet war.
Im Text selber tragen die Kapitel dann andere Überschriften, nämlich die Namen der Orte, bzw. Länder, in denen sich Glauser in der besprochenen Zeit aufhielt:
I. 1911-1924. Schweiz, Algerien, Marokko, Frankreich, Belgien
II. 1925-1932. Strafanstalt Witzwil, Liestal, Psychiatrische Anstalt Münsingen, Basel, Winterthur, Gartenbauschule Oeschberg, Collioure, Paris, Mannheim
III. 1933-1936. Strafanstalt Witzwil bei Bern, Psychiatrische Anstalt Münsingen, Psychiatrische Anstalt Waldau, Bern, Kolonie Schönbrunnen, Münchenbuchsee
IV. 1936-1937. Angles, La Bernerie, Collioure
V. 1938. Basel, Nervi
Friedrich Glauser: «Jeder sucht sein Paradies …». Briefe, Berichte, Gespräche. Herausgegeben und mit einen Nachwort von Christa Baumberger. Illustrationen von Hannes Binder. Zürich: Limmat Verlag, 2021.
Mit bestem Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar.