Prokop: Die Geheimgeschichte

Prokopios von Caesarea (ca. 500 – ca. 560) gilt als der letzte antike Historiker des Römischen Reichs – der letzte jedenfalls, der noch in der Lage war, seine Werke im klassischen attischen Griechisch zu verfassen und in elegantem Stil dazu. Die vorliegende Geheime Geschichte fällt allerdings aus dem Rahmen seiner übrigen Werke. Nicht sprachlich oder stilistisch (weswegen man sie heute nach langem Zögern auch tatsächlich ihm zuschreibt), aber inhaltlich: Während Prokop in seiner Kriegsgeschichte und in den Bauten seinen Kaiser Justinian und dessen General Belisarius (wohl auch Prokops direkter Brötchengeber) über den grünen Klee lobt, eventuelle Kritik nur ganz leise und gut versteckt anklingen lässt, zieht er in der Geheimgeschichte derart über die beiden (und deren Frauen) her, dass es kein Wunder ist, wenn er zittert beim Gedanken, dieser Text könnte Justinian vor Augen kommen. Er blieb denn auch ‚anekdotisch‘, was hier nicht im heutigen poetologischen Sinn gemeint ist als scharfe Charakterisierung einer oder auch mehrerer Personen, […] Reduktion auf das Wesentliche und […] Pointe (Wikipedia) – das liefert Prokop tatsächlich auch und man hat es ihm sogar zum Vorwurf gemacht, auch für seine übrigen Schriften –, gemeint ist hier der ursprüngliche Sinn einer „nicht herausgegebenen“ Schrift. Die Geheimgeschichte blieb lange Zeit im Original unbekannt. Es gab um etwa 1000 erste Erwähnungen in anderen Texten; sie selber wurde aber erst 1623 in der Vatikanischen Bibliothek gefunden und herausgegeben.

Man kann heute nicht sagen, welche Motivation Prokop zum Verfassen seiner Geheimgeschichte getrieben hat. Was bei einem Werk der Fiktion keine Rolle spielt, die Intention des Verfassers oder der Verfasserin, ist bei einem Geschichtswerk schon relevanter. Erst wenn wir wissen, aus welchem Grund und in welcher Absicht ein Geschichtswerk verfasst wurde, können wir auch die Wahrhaftigkeit des Textes beurteilen. So haben wir eine aus heiterem Himmel herab donnernde Schmähschrift vor uns, die den vier Hauptpersonen (Justinian, Belisarius und deren Frauen Theodora bzw. Antonina) jede Menge lasterhafter Taten vorwirft. Dabei verfährt Prokop nach dem Gießkannenprinzip. Will sagen: Er wirft allen alles vor. Im Großen und Ganzen wirft er den Vieren vor, was noch jeder römische Historiograph ungeliebten Kaisern vorgeworfen hat: Geldgier und gleichzeitig Verschwendungssucht, kaltblütiges Beseitigen ungeliebter Personen durch (auch schon mal eigenhändigen) Mord und Totschlag, Folter von (politischen) Feinden, sexuelle Ausschweifungen jeder Art, bei den Männern (sexuelle?) Hörigkeit gegenüber ihren Frauen. Diese Vorwürfe können sich bei Prokop auch schon einmal widersprechen. Was im Vergleich zu den Historiographen der klassischen Antike neu ist, ist der an Justinian gerichtete Vorwurf, ein Dämon in Menschengestalt zu sein. Das ist nicht allegorisch gemeint, auch nicht im Sinn der klassischen antiken Dämonologie, sondern bereits im christlichen Sinn eines bösen, teuflischen Geistes. Ebenso in christlichem Sinn gemeint ist der Vorwurf der Magie an die Frauen. (Während ansonsten das Christentum, dem ja alle Protagonisten inklusive Prokop zumindest theoretisch angehören, eine marginale Rolle spielt. Hin und wieder wird erwähnt, wie Justinian die eine oder andere Sekte verfolgt – aber in Prokops Darstellung eigentlich nur, um an deren Schätze zu kommen.)

Woher aber dieser Zwiespalt in Prokop zwischen ‚offizieller‘ Geschichtsschreibung und ‚anekdotischer‘? Es gibt natürlich verschiedene Mutmaßungen. So diese, Prokop habe aus Wahrheitsliebe nicht verschweigen wollen, was hinter den Kulissen geschah. Frustration und über die Jahre akkumulierter Hass werden auch vermutet. Oder ein Sicherheitsfallschirm, den er öffnen könnte, falls Justinian von der Regierung verdrängt würde, und er, dessen Hofgeschichtsschreiber, sich gegenüber einer allenfalls regierenden Opposition als heimlicher Gegner ausweisen müsste. Das mag alles eine Rolle spielen. Ich für meinen Teil vermute, dass auch die weltgeschichtliche Situation Prokops mitgespielt hat. Auch wenn er sich dessen nicht bewusst war, erlebten Prokop und seine Zeitgenossen gerade einen riesigen weltgeschichtlichen Umbruch.

Wir stehen nämlich im 6. Jahrhundert an der Schwelle des Mittelalters. Prokop und seine Protagonisten gehören gerade noch zur (Spät-)Antike. Er ist noch in der Lage, im klassischen Attisch zu schreiben; seine Nachfolger werden seine Sprachkompetenz und seine stilistische Höhe nicht mehr erreichen. Er ist noch in der Lage, ohne großen Bezug aufs Christentum zu schreiben. Die in Konstantinopel wütende Pest hat allerdings das antike Selbstverständnis der handelnden Personen bereits erschüttert. Zusammen mit verschiedenen Reformen Justinians kam da zum Beispiel auch die, dass die Legitimation seiner Herrschaft mehr und mehr als eine „von Gottes Gnaden“ erhaltene galt. Überhaupt: Justinians Herrschaft und sein Reich. Gerade erst war die weströmische Reichshälfte endgültig unter dem Sturm der Germanen zusammengebrochen, Rom erobert und kaum mehr eine richtige Stadt. Der östliche Teil des Römischen Reichs aber betrachtete sich selber als genau dies: als einen Teil des Römischen Reichs. Westrom war im Selbstverständnis der Herrschenden jener Zeit nie ein anderer Staat gewesen. Nun, wo der Westen weggebrochen war, betrachtete sich der Osten, betrachtete sich Justinian, als einzigen Erben und damit auch als eine Art Rächer Westroms. Tatsächlich ging der außenpolitische Ehrgeiz Justinians dahin, das Römische Reich in seinem alten Umfang (oder zumindest als Beherrscherin aller Regionen rund ums Mittelmeer) wieder herzustellen. Dass er daneben noch andere Feinde im Norden und Osten zu bekämpfen hatte, hinderte da ein wenig; aber tatsächlich brachte er es noch einmal zu Stande, dass – zum letzten Mal in der Geschichte – weite Teile der Gegenden rund ums Mittelmeer die römische Herrschaft anerkannten. Dieses Reich hielt nicht ganz ein Jahrhundert. Dann war endgültig Schluss mit dem Römischen Reich. Der Westen versank für eine Zeit im Chaos; der Osten konstituierte sich neu als Byzanz. An dieser Entwicklung trägt der Umstand Schuld, dass bereits zu Proklops Zeit die ehemalige östliche Hälfte des Römischen Reichs sich zwar nicht de jure, aber de facto, immer weniger als römisch-lateinisch und immer mehr als byzantinisch-griechisch verstand. Justinian war der letzte Kaiser, der noch mit Latein als Muttersprache aufgewachsen war. Sein Hofgeschichtsschreiber verfasste seine Werke, wie wir bereits gesehen haben, bereits auf Griechisch – dem klassischen Griechisch eines Thukydides noch, aber Griechisch. Die berühmte Gesetzessammlung, die Justinian in die Wege leitete, sammelte die Gesetze in ihrer lateinischen Ursprungssprache. Die Kommentare dazu waren auf Griechisch verfasst. So schlitterte der Osten langsam vom römischen Selbstverständnis weg.

Justinian versuchte, den sicher auch von ihm verspürten Zwiespalt mit überfällig gewordenen Reformen zu übertünchen. Diese Reformen verschweigt Proklop in seiner Geheimgeschichte, oder er schreibt sie egoistischen Motiven des Reformators zu. Doch dass ein Herrscher, der derart schwach und unfähig gewesen wäre wie der Justinian, den uns Prokop vorstellt, beinahe 40 Jahre hätte regieren können, dazu noch ohne größere gegen sich gerichtete Revolten, selber ohne Revolte an die Macht kommen und eines natürlichen Todes sterben können, ist wenig glaubwürdig. Natürlich muss Justinian, um 40 Jahre an der Macht zu bleiben, seine Macht geliebt haben; das zeigt nur schon der Umstand, dass er – von ein paar Monaten abgesehen ganz zu Beginn seiner Herrschaft, wo er zusammen mit seinem Onkel und Adoptiv-Vater Justin regierte – seine Herrschaft nie teilte und auch keinen Nachfolger ernannte. Sicherlich konnte damals niemand 40 Jahre an der Macht bleiben, wenn er diese nicht skrupellos verteidigte; ein Unschuldslamm war dieser Kaiser also nicht. Aber, anders als Proklop in seiner Geheimgeschichte suggeriert, war Justinian kein Dämon (weder in Proklops frühchristlichem Sinn, noch allegorisch), sondern ein durchaus engagierter Herrscher, der verschiedene Reformen anstieß und auch versuchte, das antike Römische Reich – eben gerade mit Reformen – wieder herzustellen. Dass er mit Belisarius und Narses über äußerst talentierte Heerführer verfügte, half ihm, der selber Konstantinopel kaum verließ, sicher in seiner Außenpolitik, denn er war von seiner Neigung her wohl vor allem Innenpolitiker.

Alles in allem also ein Text, der ‚cum grano salis‘ gelesen sein will. Als solcher aber sicherlich von Interesse auch heute noch. Wie sagte Arno Schmidt einmal: „I love a good hater!“ So ist es.

1 Reply to “Prokop: Die Geheimgeschichte”

  1. „Byzantinisches Reich“ ist ein Terminus, den ein deutscher Historiker im 16. Jahrhundert geprägt hat – schon damals ein Misnomer.
    Byzantion (Byzanz) war der Name der Stadt am Bosporus gewesen, bevor sie Constantin zur Hauptstadt des römischen Reiches ausbauen ließ. Danach hieß sie Roma Nova bzw. (vor allem nach Constantins Tod) Constantinopolis.
    Wenn man das Reich unbedingt nach seiner Hauptstadt benennen wollte, hätte man es eigentlich „Constantinopolitanisches Reich“ nennen müssen.
    So oder so: Das Reich hieß auch nach dem Wechsel von Latein zu Griechisch als offizieller Sprache unter Herakleios „Römisches Reich“ oder genauer „Kaiser- bzw. Königreich der Römer“ („basileus“ heißt eigentlich „König“), wobei die Selbstbezeichnung „Rhomaioi“ bis mindestens ins 19. Jahrhundert für die christlichen Griechen stand.

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