Zweifelsohne ließ Friedrich Glauser bei der Gestaltung von Wachtmeister Studer, dem Detektiv in seinen Kriminalromanen, neben literarischen Einflüssen auch viel persönliches Wunschdenken zu. Eine Amts- und Respektsperson wie den Studer, mit so viel Einfühlung in die Psyche eines Delinquenten – besonders eines Kleinkriminellen, wie er es selber ja war –, hätte er sich wohl auch im ‚wirklichen Leben‘ gewünscht. So hat er eben diesen Wachtmeister erschaffen.
Natürlich stimmt es, wie Glauser selber angibt (auch Hugo Loetscher erwähnt es im Nachwort meiner Ausgabe), dass seine literarische Inspiration zunächst einmal der Kommissar Maigret des Belgiers Georges Simenon war. Aber es gibt wichtige Unterschiede zwischen Maigret und Studer. Sofort ins Auge fallen muss der Umstand, dass Maigret der Chef eines Teams von Ermittlern ist, der zwar auch seine Untersuchungsrichter über sich hat und andere Vorgesetzte, die ihn unter Druck setzen, aber dennoch eine respektable Position innerhalb der Hierarchie einnimmt. Studer aber ist Wachtmeister, also praktisch ganz unten in dieser Hierarchie – und er ermittelt im Alleingang. Man ist versucht zu sagen, hier geht es (auch) um „Studer gegen den Rest der Welt“.
Studer ist, anders als Maigret, ein gebrochener Mann. Seine Karriere bei der Stadtberner Kriminalpolizei nahm offenbar ein jähes Ende, als er, zu der Zeit ein Kommissär, sich auf nicht näher erklärte Art und Weise bei einer Ermittlung in einem Banken-Fall(!) die Finger derart verbrannte, dass er den Dienst quittieren musste. Er kam dann zwar bei der kantonalen Kriminalpolizei wieder unter – brachte es aber nicht mehr über den Grad eines Wachtmeisters hinaus. (Es war damals wie heute so, dass nicht nur jeder Kanton in der Schweiz über seine eigene Polizei verfügt – eben die Kantonspolizei – sondern auch die großen Städte stellen eigene Korps. Was allerdings seit Studers Zeit anders ist: Auf Grund des riesigen materiellen wie personellen Anspruchs, den die moderne Kriminalistik an die Polizei stellt, sind gegen Ende des 20. Jahrhunderts überall die Kriminalabteilungen von Städten und Kantonen zusammengelegt und unter Obhut der Kantone gebracht worden. Studers Wechsel von der Stadt- zur Kantonspolizei wäre heute nicht mehr möglich.)
Studer ist zudem krankheitsanfällig. Im vorliegenden Roman holt er sich eine Brustfellentzündung, die er mit viel Grog zu kurieren versucht. Die Krankheit holt ihn dennoch ein, und das gibt Glauser die Gelegenheit, den einen oder anderen Fiebertraum Studers zu schildern.
Studer löst seine Fälle nicht so sehr durch kalte Logik. Auch wenn er sogar mit der Lupe auf dem Foto des Tatorts kontrolliert, ob auf dem Rücken des Ermordeten Nadeln zu sehen sind von der Fichte, unter der er gefunden wurde: Er ist weniger Sherlock Holmes und mehr Father Brown, der den Tatverdächtigen zuhört und sich in sie einzufühlen versucht. Und in Glausers Schilderung des kleinen Kaffs Gerzenstein, wo jeder und jede „Dreck am Stecken“ zu haben scheint, finden wir wiederum Miss Marple und die kleinen Dörfer wieder, in denen diese ermittelt. (Und wie bei Miss Marple ist der Mord letzten Endes eine Familienangelegenheit. Dass der Mörder Züge von Glausers Vater trägt – wer möchte ihm das angesichts seines Lebenslaufs verübeln?)
Glauser hat mit diesem Roman genau das erreicht, was er wollte: Intelligente Unterhaltung, die weit hinaus geht über die (auch in diesem Roman inkriminierten!) Schundhefte à la Felicitas Rose und Courths-Maler, oder auch John Kling. Doch wer kennt die heute noch? Glausers Kriminalromane hingegen haben überlebt.
Friedrich Glauser: Wachtmeister Studer. Roman. Mit einem Nachwort von Hugo Loetscher. Zürich: Diogenes, 1989. (= detebe 21733)