Marguerite Duras: Der Liebhaber [L’amant]

Ich habe hier schon mehrfach meiner Abneigung Ausdruck gegeben gegen jene Romane von jungen Männern und jungen Frauen (meistens sind es junge Frauen, warum auch immer), in denen diese in mehr oder weniger offen autobiografischer Form ihr dyfunktionales Elternhaus schildern und ihre Probleme damit, sich davon (meist: die Männer von der Mama, die Frauen vom Papa) zu emanzipieren. Zu viel Pubertät steckt da für mich drin, zu wenig wirklich Interessantes. Wenn ich nun dieses Buch hier lobe und für sehr gelungen befinde, scheine ich mich demnach in einen Widerspruch zu begeben.

Aber der Widerspruch ist nur ein scheinbarer, denn als Marguerite Duras 1984 L’amant veröffentlicht, ist sie bereits 70 Jahre alt. Alt genug also, um dem pubertären Selbstmitleid, das so penetrant aus anderen solchen Büchern trieft, entronnen zu sein. Alt genug aber, um die Dysfunktion ihrer Familie im Detail zu erkennen und schonungslos schildern zu können. Alt genug auch, dass die Ich-Erzählerin ihre eigene Dysfunktion nicht zu kaschieren braucht.

L’amant schildert auf den ersten Blick eine Art Liebesgeschichte in der Jugend der Ich-Erzählerin. Sie ist 15, als sie von einem Chinesen auf einer Fähre über den Mekong angesprochen wird. Wir sind in Vietnam, damals noch Französisch-Indochina. Der Vater der Ich-Erzählerin ist vor einiger Zeit gestorben; die Mutter hält die Familie mehr schlecht als recht über Wasser. Eigentlich wäre die Familie arm, aber das darf zu der Zeit an dem Ort keine weiße Familie sein. Man behält sein Sommerhaus in Kambodscha, auch wenn man die einheimischen Bediensteten schon lange nicht mehr zahlen kann, und diese nur bleiben, weil sie gratis auf dem Land der Herrschaft Reis für sich anbauen dürfen. Der Chinese hingegen ist der Sohn des reichsten Mannes in der Gegend, eines Multimillionärs. Er ist doppelt so alt wie die junge Weiße – dennoch entwickelt sich aus der Begegnung auf der Fähre eine Beziehung. Auf seiner Seite ist es offenbar Liebe, die Kleine ist die große Liebe seines Lebens, wie er ihr sechzig Jahre später am Telefon gestehen wird.

Die Kleine aber … Man versteht sie nicht, und die Autorin hütet sich, sie zu erklären. Ist es für sie nur Sex? Ist es (zumindest zeitweise) auch Liebe? Die Ich-Erzählerin schweigt. Sie schildert so manche Begegnung sehr ausführlich – Bettszenen inklusive. Aber über die Motive der jungen Frau schweigt sie sich aus. Praktisch das ganze ‚Innenleben‘ der Ich-Erzählerin bleibt für uns Lesende eine Black-Box. Das ist der erste Bonus-Punkt dieses Romans.

Ein anderer ist die Erzähltechnik. Die Geschichte der jungen Französin und des doppelt so alten Chinesen funktioniert wie ein Netz. Eigentlich wird diese Beziehungs-Geschichte linear erzählt. Aber in den Löchern des Netzes finden wir Bruchstücke aus dem früheren Leben der jungen Frau ebenso wie aus dem späteren. Erst dadurch erfahren wir mehr von dieser dysfunktionalen Familie – den beiden Brüdern des Mädchens, die beide lebensuntüchtig sind, der Mutter, die vor der Realität ebenfalls die Augen verschließt, den älteren Sohn zwar irgendwie heiß und innig liebt, dennoch aber nicht in der Lage ist, ihn zu erziehen. Eigentlich ist sie bei jedem ihrer Kinder mit der Erziehung überfordert. Zwischen ihr und der Tochter herrscht eine Hassliebe, die sich erst die alte Erzählerin zugeben kann.

Last but not least: Die Sprache. Duras verwendet eine einfache Sprache, die wie gesprochenes Französisch wirkt. Dazu gehört auch, dass sie des öfteren zu einem Satz zwei Mal ansetzt, wie man es ja mündlich ständig macht. Erst mit dieser Sprache ist es gerechtfertigt, dass die Erzählerin immer und immer wieder von der eigentlichen Geschichte der jungen Französin und des doppelt so alten Chinesen abschweift. Mit etwas über 130 Seiten in meiner (großzügig gesetzten) Ausgabe ist die Geschichte dazu kurz genug, um nicht in Gefahr zu geraten, durch Wiederholungen oder allzu ausschweifende Ausführlichkeit zu langweilen.


Gelesen in der Übersetzung von Ilma Rakusa, wenn ich mich nicht irre.

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