Seumes Spaziergang nach Syrakus und Hölderlins Gewaltsmarsch nach Bordeaux und zurück sind die beiden bekanntesten „Distanzmärsche“ der deutschen Literaturgeschichte. Ohne von einander zu wissen, sind die beiden am selben Tag (oder eventuell mit einem Tag Unterschied) losmarschiert. Hier hören dann allerdings die Gemeinsamkeiten auf. Von Hölderlins Fußmarsch nach Bordeaux wissen wir nicht mehr als das Datum, an dem er loszog. Wir wissen nicht, was ihm unterwegs begegnete; wir wissen nicht, was er in Bordeaux erlebte und wir wissen nicht, was ihn zu seiner raschen Rückkehr bewegte und weshalb er seine Heimat in einem so abgerissenen und „wilden“ Zustand erreichte, dass sogar engste Freunde ob seiner Erscheinung erschraken. Von Seumes Spaziergang hingegen wissen wir sehr viel – wann er wo war und was er dort sah und erlebte, alles dank dem vorliegenden Bericht über seine Reise, den er schon kurz nach der Heimkehr, 1803, basierend auf Briefen, veröffentlichte. Das einzige, was wir nicht wissen, ist der Grund seiner Reise. Was er im Spaziergang nach Syrakus angibt, nämlich losmarschiert zu sein, um Theokrits Werke in dessen Heimat Syrakus spazieren gehend zu lesen, scheint einigermaßen fadenscheinig bei einem Menschen, der wie Seume recht bodenständig war. Auch was man oft liest – nämlich, dass Seume gewissermaßen die großen Kavaliersreisen des Adels und der besseren Leute in seinem Spaziergang persiflierte, will mir nicht so recht einleuchten. Ich meine: Zumindest ich für meinen Teil hätte als Zeitpunkt, eine Fussreise durch halb Europa in Angriff zu nehmen, nicht Anfang Dezember gewählt. Auch muss diese „Persiflage“ trotz der Tatsache, dass Seume zu Fuß ging, recht kostspielig gewesen sein. (Ohne ein Darlehen von Gleim, das Seume nicht zurück zu zahlen hatte, wäre die Reise nicht möglich gewesen. Ich weiß auch nicht, was Post- und Mietkutschen damals kosteten, aber zumindest ein Teil dessen, was Seume dadurch sparte, dass er darauf verzichtete, musste er ja auf der anderen Seite wieder für eine höhere Anzahl an Übernachtungen ausgeben, als er gehabt hätte mit der schnelleren Postkutsche. Und einige seiner Übernachtungen waren offenbar nicht so billig, auch wenn er immer wieder betonte, dass er lieber in Heu und Stroh schlafe als in Daunenfedern. Abgesehen davon, dass er durchaus auch mit der Kutsche reiste – dann nämlich, wenn ihm die Gegend in punkto Räuberwesen zu gefährlich erschien, um sie alleine und zu Fuß zu durchqueren und er deshalb die Gesellschaft suchte.) Das einleuchtendste Motiv für die Reise scheint mir immer noch das gute alte „Cherchez la femme!“ zu sein: Seume hatte gerade von der Frau, die er liebte, einen Korb bekommen.
Sei dem wie dem sei. Seume jedenfalls wanderte nun von Grimma via Dresden, Prag und Wien über den Semmering zunächst nach Triest, dann nach Venedig. Es folgen Rom und Neapel, von wo er nach Sizilien übersetzt. Auf dem Heimweg wird er von Rom aus via Florenz und Mailand die Alpen dieses Mal über den Gotthard queren. Von Zürich aus folgt ein Abstecher nach Paris, bevor er über Straßburg, Mainz, Frankfurt am Main und Weimar endgültig nach Hause zurückkehrt. Es sind die klassischen Orte klassischer Italienreisender, wie man sie in den Reiseberichten vor und nach ihm findet. Auch die klassischen Sehenswürdigkeiten verschmäht Seume keineswegs. Oft aber weigert er sich in seinem Bericht seine Meinung zu diesem oder jenem Kunstwerk abzugeben, weil dazu schon viel zu viel gesagt und geschrieben worden sei. Er tut dies aber auch nicht immer, manchmal lässt er sich doch verleiten, ein paar kurze Bemerkungen abzugeben (die dann aber auch keine speziellen Einsichten vermitteln). Auch die Referenzautoren, die er zitiert, sind durchaus klassisch: Horaz (den er allerdings nicht mag), natürlich Theokrit, aber auch Cicero, Juvenal, Livius, Vergil oder Homer, um nur einige zu nennen. Auf dem Vierwaldstättersee kommt ihm ganz selbstverständlich die Geschichte von Wilhelm Tell in den Sinn. Er besucht Fernow in Rom, Salomon Gessners Witwe in Zürich, Wieland und Böttiger in Weimar und schwärmt von Anna Amalia. (Von Goethe allerdings kein Wort, und Napoléon in Paris ist ihm unheimlich.)
Was also ist anders an Seumes Reise und an seinem Reisebericht? Es ist die Tatsache, dass sein Bericht gespickt ist mit Erzählungen und Anekdoten aus dem Leben der so genannten einfachen Leute. Da ist Selbsterlebtes darunter, aber auch welches, das er nur gehört. Es sind diese Geschichten, diese Leute, die in den anderen Reiseberichten der Zeit meist zu kurz kommen. (Eine Ausnahme ist hier nur Karl Philipp Moritz, der – aus ähnlich beschränkten Verhältnisse stammend wie Seume – sich auf seinen beiden Reisen nach England und nach Italien ähnlich einschränken musste und auch seinerseits mit den ‚kleinen Leuten‘ in Kontakt kam und über sie berichtete.)
Ich weiß nicht, ob wir heute Seumes Spaziergang nach Syrakus als Ergänzung oder gar Ersatz von Goethe oder Moritz lesen sollte. Es herrscht jedenfalls ein eigenständiger Ton darin, und der macht das Buch durchaus lesenswert.
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