Lautréamont: Les Chants de Maldoror [Die Gesänge des M.]

Ob Isidor Ducasse das Pseudonym (Comte de) Lautréamont selber ausgewählt hat, wissen wir nicht. Wir wissen überhaupt wenig über die Entstehungs- und die Publikationsgeschichte der Gesänge des Maldoror. Ja, wir wissen wenig über den Autor selber. Nachdem der erste Druck des ersten Gesangs noch ohne Autorennamen erfolgt war (es stand einfach drei Sternchen an dessen Stelle: par * * * ), war dann im Druck aller sechs Gesänge eben der Comte de Lautréamont aufgeführt. Das könnte eine Hommage von Isodor Ducasse an Eugène Sue sein, der einen Roman über einen Comte de Lautréaumont verfasst hatte (auch einen schlimmen Finger). (Das fehlende ‚u‘ könnte sogar einfach ein Fehler des Setzers gewesen sein.) Es ist aber auch möglich, dass der Verleger von Ducasse (der auch Eugène Sue verlegte) hoffte, mit der Anspielung auf einen bereits bekannten Namen Interesse und Aufmerksamkeit des Publikums zu erwecken. Allerdings kriegte er dann offenbar Angst vor der Zensur bzw. davor, vor Gericht gezerrt zu werden wie damals Baudelaire für seine Fleurs de mal, und das Buch wurde zwar gedruckt, war aber nicht im Buchhandel erhältlich. Einige Jahre später kaufte ein anderer Verleger die Auflage auf und wollte das Buch in Belgien herausgeben Die Titelblätter wurden entsprechend geändert. Aber auch jetzt erreichte das Buch kaum einige Bibliotheken. Zwei kurze Besprechungen in ihrerseits etwas abgelegenen Publikationen waren alles, was Ducasse zu Lebzeiten erreichte. Öffentlich zu kaufen gab es die Erstausgabe offenbar nie. Der Autor starb dann jung und sein Buch geriet in Vergessenheit. Erst an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entdeckten zunächst die Symbolisten, dann auch die Surrealisten den Text und er wurde zum Geheimtipp dieser Bewegungen, Ducasse zum „Großvater“ der modernen Literatur.

Mit obiger kurzer Geschichte des Publikationsverlaufs der Gesänge des Maldoror ist der Text zugleich auch schon literaturgeschichtlich verortet. Sue (aber auch Goethe und Byron, die beide zu finden sind!) weist in die Romantik zurück, genauer in den Schauerroman, die so genannte ’schwarze Romantik‘. Ganz konkret war Charles Robert Maturin eines der Vorbilder, was sich an Hand versteckter Zitate nachweisen lässt. Die immer wieder auftauchenden blutig-sadistischen Szenen erinnern nicht nur vom Inhalt her – da sogar weniger, weil bei Lautréamont nicht so sehr Amputationen im Zentrum stehen als vielmehr alle Arten von Aufschlitzen der Haut – also nicht so sehr vom Inhalt her, sondern seltsamerweise vor allem auch in der oft feierlich-getragenen Sprache, die der Autor in solchen Momenten verwendet, verweisen solche Szenen auf einen Autor, den Ducasse wohl nicht einmal gekannt haben dürfte: den Marquis de Sade. Allerdings sind Lautréamonts Sexualobjekte meistens junge Männer oder gar Knaben. Aber es gibt auch eine Szene, in der Maldoror ein junges, noch nicht geschlechtsreifes Mädchen vergewaltigt und danach alle ihre inneren Organe durch die Vagina hindurch ans Tageslicht zerrt, während die Mutter zuschauen muss. Und es gibt Momente, in denen Maldoror wünscht, dass die jungen gequälten Männer ihrerseits ihm die Schmerzen zufügen würden, die er gerade ihnen zufügt.

Dies alles aber dient Maldoror gewissermaßen einem höheren Zweck, denn er verbringt seine Zeit damit, nachzuweisen, dass Gott das schlimmste und böseste aller Lebewesen ist. Blasphemie ist neben Sadismus das zweite Hauptmerkmal Maldorors. Er findet Gott im Bordell und zwingt ihn zu bekennen, wie schlecht er doch ist. Gehört Maldoror zu jenen Erzengeln, die vom Himmel gestürzt worden sind, wie Maeterlinck irgendwo einmal gesagt hat? Immerhin heißt es in den Gesängen, der Name Maldorors sei gefürchteter als selbst der Satans. Tatsächlich bleibt die genaue Natur Maldorors im Dunkeln. Ich für meinen Teil vermute, dass er gerade nicht ein Teufel ist, sondern ein Mensch wie du und ich. Erst diese Annahme gibt meiner Meinung nach den Äußerungen Maldorors und seinen sadistischen Taten das richtige Relief: Der Mensch, der schlimmer ist als der Teufel, schlimmer gar als Gott selber. Erst dadurch, dass Maldoror kein Teufel ist wird er so richtig – teuflisch.

Nun kann man mit Fug und Recht argumentieren, dass die sadistischen Sexualphantasien und die überhöhten Blasphemien der Hauptfigur ein Zeichen einer züruckgebliebenen psychischen Entwicklung des Autors darstellt. Tatsächlich sind die blasphemischen Äußerungen Maldorors im Grunde genommen nichts anderes als der Ausdruck kleinbürgerlicher Ressentiments gegenüber einem ganz Großen – wie man sie halt von einem spätpubertierenden Jüngling (egal, aus welcher Gesellschaftsschicht er stammt) erwarten darf. Man könnte das Buch und seinen Inhalt getrost vergessen, wenn … ja, wenn da nicht die Sprache wäre. Lautréamont spricht von Gesängen, und lyrisch ist die Sprache des Textes, auch wenn keine Reime, ja nicht einmal ungewohnte Zeilenumbrüche zu finden sind. Ich habe eine Getragenheit des Stils zu gewissen Momenten bereits angedeutet. Wie in Lyrik zu erwarten, ist die Sprache auch oft bildhaft. Nicht die Logik einer Handlung führt von einem Bild zum anderen, sondern Assoziationen des Ich-Erzählers (bei dem wir nicht sicher sind, ob, bzw. wann, nun Maldoror spricht und wann eine auktoriale Person). Das eine oder andere erinnert bereits an die ‚écriture automatique‘ des Surrealismus, und es scheint, dass Lautréamont diese Technik bereits verwendet hat. Erst die Sprache Maldorors, die in völligem Gegensatz zum Inhalt zu stehen scheint, macht aus den Träumen eines Spätpubertierenden tatsächliche und gute Literatur.

Durchaus empfehlenswerte Lektüre also, auch wenn man manchmal einen guten Magen braucht beim Lesen.

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