Zum Zeitpunkt, als ich begann, mich für Literatur jenseits von Karl May und Edgar Wallace zu interessieren, war Jean Anouilh gerade noch ein sehr bekannter Name der Gegenwartsliteratur. Rasch nach seinem Tod wurde es aber sehr still um ihn und heute kennt man ihn wohl kaum noch. Ich erinnere mich gut, dass es mir vor allem dieses Stück hier, Antigone angetan hatte. Das Büchlein ist mir neulich beim Stöbern in meinen Regalen wieder in die Hände gefallen, und ich beschloss spontan, meine damaligen Leseeindrücke zu verifizieren.
Antigone gehört in die Kette jener Stücke aus den 1940ern, 1950ern und frühen 1960ern (aus der Zeit also, bevor sich das absurde Drama über solche Tricks lustig machen würde), wo sich – neben den eigentlichen Darstellern auf der Bühne auch ein Erzähler oder Sprecher tummelte, der keine eigentliche Rolle inne hatte, aber immer wieder vor das Stück bzw. aus dem Stück trat, um dem Publikum zu erklären, was es gerade gesehen hatte oder gleich sehen würde. Es war dies eine Form, den Brecht’schen Verfremdungseffekt zu vollziehen, der bewirken sollte, dass sich das Publikum nicht zu sehr von der reinen Handlung mitreißen lassen sollte, sondern kalt über den eigentlichen Stoff nachdenke – über die Moral von der Geschichte also.
Anouilhs Antigone orientiert sich in der Handlung stark am antiken ‚Original‘ des Sophokles. Aus technischer Sicht bedeutet das, dass der ansonsten einen Fremdkörper im Stück darstellende Sprecher nun sozusagen literaturgeschichtlich motiviert ist, indem er die Rolle übernimmt, die im antiken Drama der Chor inne hatte. Ansonsten aber sind die Konflikte der Handelnden der Zeit angepasst worden. Anders als beim antiken Griechen diskutieren beim Franzosen die Personen ausgedehnter über den Konflikt zwischen Staatsräson einerseits (Kreon) und Liebe bzw. Familienpflicht auf der andern Seite (Antigone). Beide Parteien haben bei Anouilh Recht. Hierin besteht der tragische Konflikt, der bei Anouilh auch existenzialistische Untertöne annimmt. Einzig das Volk (in Gestalt von ein paar Wachsoldaten) spürt davon nichts. (Elitäres Denken war Anouilh offenbar nicht fremd.)
Hat das Drama also nun gut gealtert? Ich finde: Nein. Als Muster eines Brecht’schen Stücks mit Brecht’scher Technik der Verfremdung (und Brecht’scher Moral) sind die Originale immer noch vorzuziehen. Allwissende Erklärbären wie den Sprecher, mag man heute nicht mehr sehen noch hören. Mag sein, in weiteren 80 Jahren denken Publikum und LiteraturkritikerInnen anders über das Stück.