Wir haben gesehen, wie mit dem vierten Buch die Entwicklung des Helden Pantagruel abgeschlossen war und damit eigentlich auch die Saga um ihn und seinen Vater Gargantua ein Ende hatte. Eigentlich, denn es gibt eine große Lücke im vierten Buch: Die am Argonauten-Epos des Apollonios orientierte Fahrt unserer Helden, die Suche nach dem Goldenen Vlies, dem Heiligen Gral – oder eben in diesem Fall der göttlichen Flasche – diese Suche war noch nicht beendet. Die Helden um Pantagruel hatten die Flasche am Ende von Buch IV ja noch nicht gefunden.
Insofern klingt es logisch und natürlich, dass nach dem vierten auch noch ein fünftes Buch mit den Heldentaten dieser Truppe erschien – ein Buch, in dem sie dann auch die Flasche fand und die Geschichte so ein richtiges Ende hatte. Aber was auf den ersten Blick logisch und natürlich erscheint, entpuppt sich auf den zweiten als problematisch. Das fünfte und letzte Buch erschien nämlich 12 Jahre nach dem vierten. Längere Wartezeiten zwischen den Veröffentlichungen waren zwar bei dieser Saga normal. Aber: 1564, als das fünfte Buch erschien, war François Rabelais bereits seit elf Jahren tot. Auf dem Titelblatt der Erstausgabe findet sich aber keinerlei Hinweis darauf. Wir wissen bis heute nicht, wer es in Rabelais‘ Namen herausgegeben hat und woher diese Person die Vorlage hatte.
Bei der Lektüre des fünften Buchs gerät man ins Staunen. Obwohl sich die Reise unserer Argonauten problemlos als Fortsetzung der ja unbeendeten Reise des vierten Buchs lesen lässt – die geografischen Angaben sind absichtlich vage gehalten in beiden Büchern –, merkt man rasch, dass etwas nicht stimmt. Irgendwann beim zweiten oder dritten Auftritt von Panurge habe ich dann geschaltet: Alle psychologischen Veränderungen der Figuren, die im vierten Buch stattgefunden haben, wurden rückgängig gemacht. Das fällt vor allem an Panurge auf, der wieder vermehrt der geschickte Disputierer und Eristiker ist, der er vor allem im dritten Buch war. Auch seine im vierten Buch pointiert hervorgehobene Feigheit in Gefahrensituationen ist hier wieder bedeutend zurück gebildet. Last but not least ist es offenbar wieder seine Quest, die die Gefährten hier unternehmen.
Anders gesagt: Wir haben hier keine Fortsetzung von Buch IV vor uns, sondern eindeutig ein alternatives Ende, das an Buch III anschließt. Offenbar gab es Entwürfe von Rabelais, die hier verwendet wurden – Entwürfe, die mehr oder weniger ausgearbeitet waren. Denn auch das fällt auf: In vieler Hinsicht ist Buch V nicht auf dem sprachlichen Niveau der Vorgängerbände. Streckenweise wirkt der Stil, als ob Rabelais hier fürs Erste einmal ins Ungefähre formuliert hätte, in der Absicht, an der Sprache dann noch zu feilen. Schlussendlich scheint er aber die ganze Fortsetzung verworfen zu haben.
Jedenfalls finden unsere Helden um Pantagruel in Buch V ihr Goldenes Vliess, ihren Heiligen Gral, ihre göttliche Flasche. Sie befindet sich in einer Höhle und wird bewacht von einer Priesterin. Die Höhle ist mit verschiedenen Bildern verziert. Eines davon wird genauer beschrieben: die Schlacht, in der der Gott des Weins Dionysos mit einer Armee von Satyrn und Faunen die Truppen eines indischen Herrschers besiegt und so den Wein auch nach Indien bringt. (Diese Bildbeschreibung hat Rabelais übrigens praktisch wortwörtlich bei Lukian abgeschrieben.) Die Art und Weise, wie Panurge schließlich zur göttlichen Flasche geführt wird, erinnert an Initiationsriten der antiken Mysterien. Was die göttliche Flasche aber dem völlig verwirrten Panurge rät, ist ganz einfach „Trink!“. Der Wein ist also die Lösung aller Probleme. Damit fällt die Geschichte weit zurück in ihre Anfänge, als die Riesen Gargantua und Pantagruel nicht viel mehr als großartige Säufer und Fresser vor dem Herrn waren. Wahrscheinlich fühlte das Rabelais, und es war der Grund dafür, dass er diesen Schluss verworfen hat.
Dennoch: eine vielleicht nicht gerade göttliche, aber immer noch herrlich satirische Erzählung. Und ich denke noch immer, dass Rabelais auf jeden Fall, auch mit dem fünften Buch, eine absolut empfehlenswerte Lektüre darstellt.