H. G. Wells: The Invisible Man [Der Unsichtbare]

Das Buch trägt den Untertitel A Grotesque Romance. Später würde H. G. Wells seine vier ersten Romane (Die Zeitmaschine und Die Insel des Dr. Moreau, die vor dem Dritten, dem hier zu besprechenden Unsichtbaren, erschienen waren, Der Krieg der Welten, der im Folgejahr erscheinen sollte) als Scientific Romances bezeichnen. (Was Well’s damaliger Begriff war für jenes Genre, das wir heute ‚Science Fiction‘ nennen.) Beide Bezeichnungen stimmen für den Unsichtbaren. Beide stimmen nicht. Das liegt daran, dass der Roman aus zwei völlig verschiedenartigen Teilen zusammengesetzt ist – einem gelungenen und einem … nun ja … weniger gelungenen. Beide Teile nehmen jeweils ziemlich genau die Hälfte des Textes in Anspruch. Dazwischen, in der Mitte des Buchs also, liegen ein paar Seiten, die als eine Art Scharnier die beiden ungleichen Hälften zusammen halten und die Kontinuität der Geschichte herstellen. Die beiden Teile erzählen zuerst die Geschichte von Ankunft und Aufenthalt eines äußerst seltsamen Mannes im Gasthof Coach and Horses in Bramblehurst, einem Provinznest in der Nähe Londons. Der Mittelteil schildert die Flucht des Unsichtbaren (den um den handelt es sich bei der seltsamen Gestalt). Im Schlussteil schließlich wird der Unsichtbare auf seiner Flucht Aufenthalt nehmen bei einem ehemaligen Studienkollegen, Dr. Kemp, und ihm erzählen, wie es gekommen ist, dass er nun als Unsichtbarer durch England irrt.

Wirklich gelungen ist nur der erste Teil. Dieser Part ist auch der wirklich groteske Teil, jedenfalls im deutschen Sinn des Wortes. Die seltsam gekleidete und mit Bandagen umwickelte Gestalt des Fremden, der an einem düsteren Tag im Februar, im Schneeregen, in diesem Provinznest eintrifft, ruft bei den Einheimischen die seltsamsten Reaktionen hervor. Als Lesende können wir uns eines öfteren Grinsen nicht enthalten, auch wenn diese Schilderung der … nun ja … Dummheit, Ungeschicktheit und Selbstsüchtigkeit der englischen Dorfbevölkerung wohl aus heutiger Sicht nicht ganz politisch korrekt ist. Aber die Reaktionen der Leute auf das ungewöhnliche Phänomen eines von Kopf bis Fuß stets dick eingewickelten Mannes sind gar zu köstlich zu lesen. Und selbst als es ihnen dämmert, dass dieser Mensch nicht nur komisch angezogen ist und schlechte Umgangsformen hat, sondern de facto unsichtbar ist, sind die ersten Reaktionen einfach nur witzig, bevor dann Furcht und Zittern, aber auch Zorn, einsetzen. Inkongruenzen sind nun mal komisch anzuschauen, und Inkongruenzen wir als Lesende hier in rauen Mengen.

Im zweiten Teil wird dann der Unsichtbare erklären, wie es dazu gekommen ist, dass er nicht mehr gesehen werden kann. Hier finden wir die für Science Fiction typische, zumindest versuchsweise wissenschaftliche Erklärung und hier finden wir dann auch die für Science Fiction ebenfalls typischen ‚Action‘-Szenen. Wells spitzt die Dramatik zu, indem er aus dem im ersten Teil vielleicht jähzornigen und leicht erregbaren Mann einen Größenwahnsinnigen macht, der davon träumt, die Herrschaft zu übernehmen – wenn nicht über die Welt, so doch – über das Dorf, in dem sein ehemaliger Studienkollege Kemp nun lebt. Das nun war aber von Seiten des Autors unnötig und sinnlos. Es besteht kein Grund, warum der Unsichtbare plötzlich die Weltherrschaft übernehmen wollen sollte. Ich fürchte, hier drückt Wells‘ (für einen Science Fiction-Autor eigentümliches) Misstrauen gegen die Wissenschaft und die Wissenschaftler durch – nicht zum Guten der Figur und der Geschichte.

Wer den Unsichtbaren geniessen will, sollte ihn in der Mitte abbrechen. Im zweiten Teil ärgert man sich nur darüber, was der Autor aus der an sich interessanten Figur gemacht hat.

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