Formal betrachtet, handelt es sich bei Edward Youngs Nachtgedanken um ein Langgedicht in Blankversen; inhaltlich gesehen, haben wir ein Lehrgedicht vor uns. Denn Edward Young will hier lehren, belehren – über Gott und die Welt, im wahrsten Sinn des Wortes. Anders als sein Kollege Lukrez kleidet er seine Belehrung allerdings in ein (zugegeben: dünnes) literarisches Mäntelchen. Die unter einem Decknamen angesprochenen Personen haben im Übrigen tatsächlich existiert, aber das spielt für den Text weiter keine Rolle. Ausgangssituation der Nachtgedanken ist ein Sprecher (anders kann man ihn nicht nennen; er ist es, aus dessen Mund alles kommt, ohne dass er selber eine irgend geartete Rolle spielen würde), der es auf sich genommen hat, seinen jungen Freund Lorenzo zu trösten und zu belehren. Dieser hat in kürzester Zeit drei geliebte Menschen durch Tod verloren. Nun zweifelt und verzweifelt er an Gott. Der Sprecher unternimmt in der Folge alles, um dem jungen Mann zu beweisen, dass diese Welt trotz dieser Vorkommnisse gut und schön eingerichtet ist. Gut und schön eingerichtet von einem guten und gerechten Gott. Dafür nimmt der Sprecher seinen Freund nächtens auf den Friedhof mit, auf dem dessen geliebte Menschen begraben sind. Mit fiktiven Gesprächen über die Toten sowie mit dem Hinweis darauf, wie gut die Natur eingerichtet ist, werden die IX Kapitel gefüllt. Der Sprecher wird nicht müde zu betonen, dass, was er sagt, keineswegs (nur) Sache des Gefühls ist, sondern dass der Verstand dem Menschen sagen müsse, dass die Natur zum besten eingerichtet ist und dass diese Einrichtung einen göttlichen Urheber haben müsse. Er stützt sich dabei explizit auf John Locke, in minderem Maß auch auf David Hume, während er die französischen free thinker (im damaligen Sprachgebrauch also: Atheisten) für ihren Unglauben verurteilt. (Hier nennt er namentlich Bayle und V––––e, buchstabiert also Voltaire, wie wenn es der Name des Gottseibeiuns wäre, den man nicht vollständig ausschreiben dürfe!) Ohne ihn zu zitieren, vielleicht auch ohne ihn zu kennen, teilt er Baruch de Spinozas Meinung, dass Gott keine Wunder wirke, weil die von ihm geschaffene Welt perfekt sei und keiner Wunder bedürfe. Um es zusammenzufassen: Das Buch erschien 1742; wir haben hier den damals im Schwange stehenden, rationalistisch unterfütterten Deismus und eine ebenfalls zeittypische Physikotheologie vor uns, wie sie praktisch zur gleichen Zeit der Hamburger Senator und Bürgermeister Barthold Heinrich Brockes in seinem Irdischen Vergnügen in Gott publizierte. Beide verwendeten Naturschilderungen, um Gottes Lob zu singen; beide hatten sie mit ihren Gedichten grossen Erfolg beim Publikum der Mitte des 18. Jahrhunderts. (Nur dass, wo Brockes Gott im Kleinen und Winzigen findet, in einer Blüte oder einer Fliege, Young ins Große geht, gleich das ganze Weltall durchschreitet.)
Dann aber geschieht etwas Seltsames. Brockes verschwindet sehr schnell wieder aus dem Gedächtnis der literarischen Welt. Kant nimmt ihn nur noch als Kuriosum zur Kenntnis; Lessing, Goethe und Wieland kennen und nennen ihn noch, sprechen ihm aber keine Relevanz mehr zu. Schon die Romantiker haben ihn vergessen, und vergessen blieb er das ganze 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Erst Arno Schmidt hat ihn wohl mit einem seiner Funk-Essays wieder ins Bewusstsein einer größeren literarischen Öffentlichkeit gerückt und auf die Schönheit seiner Verse und den rigorosen Naturalismus seiner Schilderungen hingewiesen. Im Gegensatz dazu findet Young bei den deutschen Romantikern, und in deren Gefolge bei den französischen Symbolisten und Surrealisten begeisterte Aufnahme. Warum dies? Die Antwort ist wohl im Phänomen einer … sagen wir … äußerst selektiven Lektüre dieser Dichter zu finden. Die Friedhofsatmosphäre vor allem der ersten Strophen der Nachtgedanken und die wahrhaft grandiose Schilderung eines Weltuntergangs zu Beginn von Kapitel IX haben die Lust am Morbiden der (schwarzen) Romantik, und dann auch der Symbolisten und Surrealisten, so richtig angefeuert. Die Theologie dahinter ließen diese Leute dann hingegen weg.
Ich habe nun die auch heute noch les- und genießbaren Teile der Nachtgedanken bereits aufgezählt – mit einer Ausnahme. Young, der die zeitgenössische Naturwissenschaft keineswegs verachtete, im Gegenteil, schließt sein Lehrgedicht ab mit einer ebenfalls großartigen Schilderung einer Reise durch das Weltall, an Sternen vorbei, die man von der Erde aus gar nicht sieht, weil deren Licht noch nicht bis zu uns gelangt ist und voller fremder, aber ebenfalls bewohnter Erden. Inhaltlich stützt er sich hier auf den Astronomen Christiaan Huygens, der ebenfalls bewohnte Exo-Planeten postulierte (Young kennt und schätzt, nebenbei, auch Newton!), aber seine Formulierung macht aus dem Schluss einen sprachgewaltigen frühen Ausflug in die Science Fiction.
Im Übrigen: Während seit ein paar Jahren eine kritische Ausgabe der Werke von Barthold Heinrich Brockes unterwegs ist (die allerdings nun offenbar ins Stocken geraten ist), gibt es – wenn ich das richtig sehe – aktuell keine einzige deutsche Übersetzung von Youngs Nachtgedanken mehr im Buchhandel. Und auch auf Englisch ist praktisch nur noch die ursprünglich 1989 erschienene Ausgabe für literaturwissenschaftliche Zwecke der Cambridge University Press erhältlich, herausgegeben von Stephen Cornford – seit 2008 offenbar als digitaler Print on Demand. Selbst die berühmte Ausgabe mit den Illustrationen von William Blake finde ich aktuell nicht. Das zeigt, dass Youngs Zeit heute vorüber ist, wo wir bei ein bisschen Friedhofsatmosphäre nur müde lächeln und an physikotheologische Argumente kaum noch glauben. Wenn da nicht die sprachlichen Juwelen wären, die der Text enthält, und vor allem das letzte Kapitel, könnte man auf die Nachtgedanken verzichten – es sei denn, man wäre Literaturwissenschaftler*in.