Dies ist Glausers dritter Kriminalroman mit dem Berner Fahnder-Wachtmeister Studer als Ermittler. Das heißt: Zum ersten Mal gedruckt wurde er vor dem als zweiten begonnenen. Glauser hatte bei der Fertigstellung seines als zweites begonnenen Romans Die Fieberkurve außerordentlich Mühe, ein befriedigendes Ende zu finden und – wie sein Wachtmeister gesagt hätte – „knorzte“ lange daran herum. So richtig befriedigend ist es ja dann doch nicht geworden. Matto regiert nun hat Glauser nach eigenen Aussagen nur so in die Tasten gehauen, ohne größere Umgestaltungsarbeiten. Was – wiederum nach Glausers eigener Aussage – darin begründet ist, dass er (Glauser) das Thema schon seit fünf Jahren mit sich herum getragen habe. Tatsächlich ist Matto regiert Glausers persönlichster Kriminalroman. Er hat hier viele eigene Erfahrungen von seinen diversen Aufenthalten in – wie man damals noch sagte – Irrenanstalten verarbeitet. So viele sogar, dass er sich bemüßigt fühlte, dem Roman eine Notwendige Vorrede voran zu stellen, in der er ganz klar festhielt:
Mein Roman ist kein Schlüsselroman.
Doch die Lesenden – damals wie heute – haben das meistens als Rauchpetarde und Verschleierungstaktik aufgefasst. Immerhin lässt sich seine fiktive Anstalt Randlingen (an Hand der Architektur alleine schon) leicht als „Münsingen“ identifizieren – eine Irrenanstalt, in der sich Glauser eine Zeitlang (unfreiwillig!) aufgehalten hatte. Der fiktive Leiter der fiktiven Anstalt Randlingen, Ulrich Borstli, war ebenso leicht als der tatsächliche Leiter des tatsächlichen Münsingen, Ulrich Brauchli, zu identifizieren, wie sein II. Arzt, Doktor Laduner, als Max Müller, bei dem Glauser eine Psychoanalyse mitmachte und der eine Zeitlang eine ebenso wichtige Bezugsperson für ihn war, wie Doktor Laduner für den fiktiven Insassen Caplaun. Die Ähnlichkeiten der Personen war so ins Auge fallend, dass sogar der Berner Regierungsrat (die kantonale Exekutive) in einer Sitzung über Glausers Roman diskutierte und darüber, ob er verboten werden sollte. (Allerdings zeigte es sich dann, dass Brauchli zwar über Beziehungen verfügte, die gut genug waren, eine solche Diskussion an einem solchen Ort zu provozieren, aber in seinem persönlichen Verhalten – ähnlich wie Borstli – dann doch nicht über jeden Zweifel erhaben war und man deshalb die Sache lieber auf sich beruhen ließ als das Feuer eines Skandals erst recht anzufachen.)
Dennoch: Der Roman ist tatsächlich kein Schlüsselroman. Oder bestenfalls erst in zweiter oder dritter Linie. In erster Linie liefert er ein Bild von unten, aus der Sicht der Betroffenen (der Behandelten wie der einfachen Pfleger oder Wärter), dessen, was damals als psychiatrische Heilanstalt galt und wie sich so eine Anstalt (eben für die Betroffenen) anfühlte. Da wird das völlige Ausgeliefert-Sein der Patienten ebenso dargestellt wie die lausige finanzielle Situation der Pflegekräfte. (Gewisse Dinge haben sich in den letzten 100 Jahren nicht geändert …) Sehr feinfühlig stellt Glauser das Beziehungsgeflecht der Patienten untereinander, der Pfleger untereinander, der Ärzte untereinander, aber auch der drei Gruppen unter- und gegeneinander. Das kann und will ich hier gar nicht nacherzählen, das muss man selber lesen.
In zweiter Linie aber, ganz nebenbei, wird Glauser in diesem Roman politisch. Während eines Gesprächs zwischen Studer und Doktor Laduner läuft im Hintergrund ein Radio. Der Sender bringt Marschmusik, was Studer gefällt, weil es ihn beruhigt. Dann wird die Musik unterbrochen und die beiden hören eine Rede, aus der Glauser sogar Teile zitiert. Es ist Adolf Hitler, der spricht. Laduner meint nur ganz trocken, dass das auch ein Beispiel sei eines Menschen, den man auf eine andere, bessere Laufbahn hätte schicken können, wenn man ihn rechtzeitig einer Psychoanalyse unterzogen hätte. Auch der drohende Weltkrieg wird im Roman ein oder zwei Mal angesprochen. (In der zweiten Buchausgabe von Matto regiert, die 1943 im Schweizer Druck- und Verlagshaus erschien, wurden alle aktuellen Bezüge zu Nazi-Deutschland, insbesondere die Radiorede von Hitler, gestrichen …)
Zum Schluss muss allerdings festgehalten werden, dass auch dieser Roman, wie Die Fieberkurve als Kriminalroman so ziemlich missraten ist. Glauser gab das selber zu. Er hatte zu viele Spuren gelegt, die an zu viele verschiedene Ort, zu zu vielen verschiedenen möglichen Mördern, führen, und der Autor kann sie am Schluss nicht mehr richtig zusammenführen. Als es dann Studer doch gelungen ist, geschieht dies einerseits auf Kosten von drei weiteren Toten, die Glauser auf den letzten paar Seiten des Romans anhäuft. Andererseits wird Studers Lösung, als er sie an seinem letzten Abend in Randlingen dem Doktor Laduner präsentiert, von diesem komplett zerpflückt, der eine nochmals ganz andere Schilderung der Ereignisse und Zusammenhänge herstellt. Studer gibt dem Arzt recht. Ob das auch der Autor getan hat, oder ob er hier – wie ich vermute – eine Hybris nicht auf Seiten Studers (des gesunden Menschenverstands) sondern auf Seiten des Arztes (der Déformation professionelle) gesehen hat, bleibe dahin gestellt.
In der Schilderung der Atmosphäre einer Irrenanstalt der 1930er unübertroffen. Als Kriminalroman wie schon sein Vorgänger nicht gelungen. Den Schluss kann man getrost bei der Lektüre weglassen – außer, man möchte über den oben angedeuteten Konflikt zwischen gesundem Menschenverstand und professionellem Sachverstand philosophieren. Wovon ich abrate.
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