Bernhard Kellermann: Der Tunnel

Bernhard Kellermann, so will es der kurze Text ganz vorn im Buch, soll mit diesem Roman 1913 einen ziemlichen Erfolg gehabt haben. Der Nationalsozialismus unterbrach später seine künstlerische Karriere; Kellermann ging zwar nicht ins Exil, aber er beschränkte sich in dieser Zeit darauf, harmlose Trivialromane zu schreiben. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs engagierte Kellermann sich aktiv in der Kulturpolitik der DDR, was – so wieder der einführende Text – zur Folge gehabt haben soll, dass der Buchhandel im Westen ihn boykottierte, was seinerseits die Konsequenz gehabt haben soll, dass Kellermann aus dem Gedächtnis des Publikums verschwand. Warum er auch nach der Wende nicht mehr zurückgekehrt ist, wird allerdings nicht gesagt. (Die Informationen im einführenden Text sind übrigens praktisch wortwörtlich auch auf Wikipedia zu finden und ich weiß nicht, wer da von wem abgeschrieben hat oder ob beide Texte vom gleichen Autor einfach so in beide Medien gesetzt worden sind.)

Der Tunnel nun ist schwierig einzuordnen bzw. zu besprechen. Die Idee eines Tunnels unter dem Atlantik, der die USA mit Europa verbinden soll, war 1913 sicher ‚utopisch‘ im volkstümlichen Sinn des Worts. Heute, wo zumindest der Tunnel unter dem Ärmelkanal zwischen Großbritannien und Frankreich steht (der im Roman auch noch gerade im Bau war), klingt die Idee zwar weniger utopisch, aber im Zeitalter von Flugzeugen, die die Distanz zwischen den beiden Kontinenten bedeutend rascher zurücklegen, als es Kellermanns Eisenbahn durch den Atlanik-Tunnel tut, wäre er ein wirtschaftlicher Unsinn.

Nicht, dass er das im Roman nicht schon gewesen wäre. Dort allerdings wird er trotz aller Hindernisse fertig gebaut, trotz eines Unglücks, das Tausenden von Arbeitern das Leben kostet, trotz eines betrügerischen Finanzchefs der Bau- und Betriebsgesellschaft, der die Firma in den Konkurs stürzt und mit ihr so manchen Aktionär.

Der Roman weist viele gute und schöne Seiten auf. Die Schilderung der Sitzung aller großen US-Finanzmänner der USA hoch oben in einem Wolkenkratzer New York, bei Gluthitze in der Stadt ist in ihrer Schilderung eben dieser Hitze ausgezeichnet geraten. Hier steht dem Autor sein am Expressionismus geschulter Stakkato-artiger Stil prächtig bei; seine aufzählungsartig hintereinander gereihten Substantive und Nebensätze vermitteln einen guten Eindruck sowohl von der Hitze wie von den zähen Verhandlungen um die Finanzierung des Vorhabens. Später wird Kellermann genau das noch einmal zu ein paar nachgerade grandiosen Szenen verhelfen, wenn er den beginnenden Bau schildert. Die Faszination durch die Technik, die so viele Expressionisten verspürten – auch Kellermann verspürt sie. Und auch er geht wie seine Kollegen so weit, die Menschen zu schildern, wie wenn sie Teile von Maschinen wären – was im Zusammenhang eine gut fundierte Kritik am unmenschlichen Verhalten des Kapitalismus darstellt.

Wenn sich der Autor nun darauf beschränkt hätte, auf die Schilderung der Finanzierung des Riesenbaus, die Schilderung des beginnenden Baus, dann der Katastrophe als ein Teil des Tunnels tief unter Wasser einbricht … und dann hier aufgehört hätte, dazwischen noch den einen oder anderen nicht direkt dazu gehörenden Teil gestrichen: Dann hätten wir einen großartigen Roman vor uns.

Leider aber füllt Kellermann die Geschichte mit Passagen, die einfach nur langweilen und manchmal übertreibt er es auch mit zu lange durch gehaltenen expressionistischen Passagen. Dazu ist er alles andere als ein Meister der psychologischen Gestaltung seiner Figuren. Wir finden im ganzen Roman im Gegenteil durchwegs nur Pappkameraden, Marionetten, die tun, also ob sie handeln. Last but not least stoßen heute sein Bild der Frau als ein dem Manne dienendes Wesen noch mehr als damals auf, seine immer wieder aufscheinende Kennzeichnung des Finanzchefs als eines ungarisch-jüdischen Emporkömmlings (inklusive wirklich rassistischer Schilderung von dessen Äußerem), die Beschreibung des Mobs (Nigger (was 1913 wohl noch nicht als rassistisch galt), die nur dumm und fanatisch sind). Solche nicht der Handlung dienenden Qualifikationen von Protagonist*innen ziehen die Qualität des Buchs doch gewaltig herunter. Daran ändert auch nichts, dass man es „damals nicht besser wusste“. Wie überhaupt die Beschreibung der Masse der Arbeitenden für eine späteren Funktionär der DDR seltsam herablassend, ja voller Verachtung geraten ist. (Während er zumindest Mac Allen, den Helden der Geschichte, irgendwie heimlich zu bewundern scheint – jedenfalls fehlt jede implizite oder indirekte Verurteilung seines Verhaltens, auch wenn es äußerlich als menschenverachtend charakterisiert werden muss. Das mag aber auch daran liegen, dass Kellermann Psychologie wirklich nicht kann.)

Fazit: Eine Kürzung der nicht ganz 500 Seiten auf deren 60 bis 70 hätte dem Text gut getan. So ist er mit zu viel Trivialem gefüllt, und es ist für mich kein Wunder, hat der Westen den Autor Kellermann vergessen. Sich seiner zu erinnern, lohnt sich tatsächlich kaum.


Gelesen habe ich folgende Ausgabe:

Bernhard Kellermann: Der Tunnel. Berlin: Hirnkost KG, 2022.

[Es handelt sich hier um einen kompletten, mit Liebe gestalteten Neusatz des Textes. Fester Einband, Fadenheftung und Lesebändchen vervollständigen den recht gediegenen Eindruck des Buchs. Man lasse sich auch nicht von dem in gebrochener Schriftart gesetzten Buchtitel irritieren. Diese Schriftart wird heute häufig von brauner Seite missbraucht (in absoluter historischer Unkenntnis, nebenbei); hier haben wir aber nichts Derartiges vor uns. Die lila statt schwarz gedruckten Lettern des eigentlichen Romans sind allerdings gewöhnungsbedürftig und wären nicht nötig gewesen. Im Übrigen, für Interessierte: Das Buch ist Teil einer neuen Reihe Utopien in der Science Fiction, auch als Wiederentdeckte Schätze der deutschsprachigen Science Fiction angekündigt, die dieses Jahr (2022) vom Hirnkost-Verlag begonnen wurde. Weitere Titel sind angekündigt, aber noch nicht erschienen.]

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