Seien wir ehrlich: Als Kriminalroman ist Die Fieberkurve so ziemlich missraten. Nicht nur, dass Glauser viel zu viel Personal eingebaut hat. Er hat auch dieses Personal in unnötig verwickelte Beziehungen zu einander gesetzt. Da sind zunächst die beiden Toten, vermutlich Ermordeten: zwei alte Frauen, eine wohnt in Basel, eine in Bern. Sie sind Schwestern, beide allein stehend – die eine Witwe, die andere geschiedene Witwe (kann man so sagen? – Sie ist geschieden, und ihr Ex-Mann ist gestorben). Beide waren sie mit dem gleichen Mann verheiratet. Der war – obwohl Schweizer – im Auftrag des französischen Staats in Nordafrika unterwegs, um dort nach Bodenschätzen wie Erdöl etc. zu suchen. Dort hat ihn die Malaria erwischt. Vielleicht ist er aber auch nicht gestorben. Vielleicht ist es der Mörder aber auch sein Bruder, der in der Geschichte im Hintergrund mitspielt. Oder seine Tochter. Oder jener Pater, den Wachtmeister Studer bei einem Aufenthalt in Paris kennen lernt, und der seinerseits von einem hellseherisch veranlagten Korporal der Fremdenlegion erzählt, der zwei Morde vorausgesagt habe. Der Pater behauptet seinerseits, ein Bruder des verschwundenen Schweizer Geologen zu sein. Vielleicht ist aber auch der Pater identisch mit einem nur zum Schein verstorbenen Ehemann? Selbst das polizeiliche Hilfspersonal ist in diesem Roman zu groß geraten und die einzelnen Figuren zu wenig von einander geschieden: Der Spezialist für Fingerabdrücke, der Gerichtsmediziner (beide in Bern), der Kriminaltechniker in Paris: Alle drei schlaue und ungeheuer hilfsbereite Kerlchen, die weit über ihren Tellerrand hinausgucken und Studer mit wertvollen Tipps versehen. Nur weiß der Leser am Schluss nicht mehr so ganz, welcher von ihnen nun wann welchen Tipp gegeben hat. Ja, unter der Lektüre beschleicht einen das Gefühl, dass sogar Glauser selber den Überblick verloren hat. Entsprechend seltsam und unbefriedigend ist denn auch die Auflösung.
Glauser wusste um die Schwächen seines zweiten Romans mit Wachtmeister Studer, den auch er als Kriminalroman für verunglückt hielt; er hat über ein Jahr daran gefeilt, um einen halbwegs befriedigenden Fall für seinen Helden heraus zu kriegen. Dabei ist er nicht nur an diesem Roman, sondern am Genre des Kriminalromans überhaupt schier verzweifelt. Herausgekommen ist ein … nun ja: als Krimi bestenfalls knapp mit der Note „genügend“ zu bezeichnendes Werk. Dennoch sollte man dieses Buch gelesen haben, wie ich finde.
Denn Glauser gelingt etwas viel Besseres als ein guter Kriminalroman. Es gelingt ihm, eine atmosphärische und dichte Beschreibung jenes Zustandes zu geben, für den man erst viel später den Begriff „Midlife Crisis“ finden würde. Denn, auch wenn Glauser das Wort dafür noch nicht kennt: Genau die ist es, die Studer gepackt hat. Gleich zu Beginn des Romans wird sie ihn in voller Wucht treffen, als er in Paris am Silvesterabend von seiner Frau ein Telegramm erhält mit dem Inhalt: der junge jakobli läßt den alten jakob grüßen hedy. Was Frau Studer meint: Der Wachtmeister ist Großvater geworden. Dass er sich überhaupt in Paris bei seinem Freund Madelin von der französischen Police Judiciaire aufhält, hat ja schon damit zu tun: Studer ist vor der kalten und unfreundlichen Wohnung in Bern geflohen. Und die Wohnung ist kalt und unfreundlich, weil seine Frau ins Thurgau gefahren ist, um bei der Geburt des Enkels vor Ort zu sein. Studer freut sich keineswegs über den Enkel, denn erst jetzt hat er das Gefühl, seine Tochter endgültig verloren zu haben.
Diese Unzufriedenheit mit dem aktuellen Zustand zieht sich bei Studer durch den ganzen Roman. Immer wieder kommt er auf einen Bubentraum zurück und ärgert sich darüber, dass er nie zur Fremdenlegion ging, wie er es in Momenten, wo es ihm schlecht ging, doch so gerne getan hätte. Dennoch führt Studer seine Untersuchung stur weiter. Glauser gibt das Gelegenheit für ein paar herrliche Vignetten zum Leben eines Schweizer Beamten.
Da ist zum Beispiel die Stelle, noch auf der Überfahrt von Frankreich nach Nordafrika, wo Studer, der unter fremdem Namen reist und sich dafür nicht nur seinen Schnauzbart abrasieren ließ, sondern auch auf seine Brissago-Zigarren verzichtet (weil sie ihn verraten würden) und auf Pfeife umstellt, doch noch einmal heimlich in seiner Kabine eine Brissago raucht und feststellt, dass die im Vergleich zum Pfeifentabak nun wie Leim schmeckt. Er wirft sie über Bord.
Die wohl berühmteste (aber nicht die beste!) Stelle ist jene immer wieder zitierte, wo Studer – immer noch unter fremdem Namen, jetzt schon in Nordafrika unterwegs zu jenem Garnisonsposten der Fremdenlegion, in dem sich der hellseherisch veranlagte Korporal befinden soll – mehr zufällig denn absichtlich eine Haschischpfeife nach der anderen hineinzieht, und in ein riesiges Farben- und Tonspektakel versinkt: Danach hört Studer Musik, die klingt, als werde der Berner Marsch von himmlischen Heerscharen gespielt
Jeder Versuch Studers, seine Rauscherfahrungen später seinen Freunden in Bern zu schildern, scheitert. Das einzige, was Studer sagen kann, ist:
»Suber!« sagte er. »Cheibe suber isch es gsy!« …
Das ist denn auch ungefähr das Höchste an Enthusiasmus, das ein Schweizer zu Stande bringt …
Es gibt noch mehr solches. Mindestens so schön sind zum Beispiel jene Stellen, wo Studer auf einem Maultier unterwegs zur Garnison ist und sich mit dem Vieh auf Berndeutsch unterhält.
Die schönste und atmosphärisch dichteste Stelle aber findet lange vorher statt, als Studer noch in Bern spätabends (oder frühmorgens – es ist halb vier) im Pyjama – natürlich seine obligate Brissago rauchend! – seiner Frau seine verschiedenen Theorien zum Mordfall erklärt. Die ist nämlich unterdessen aus dem Thurgau zurück. Seine Theorien sind so langwierig und verwickelt wie der ganze Roman. Interessant ist aber, was hier nebenbei geschieht: Während Hedy nämlich ihrem Jakob zuhört und an einem winzig kleinen Höschen für den Enkel strickt, betrachtet sie gedankenverloren die Fieberkurve, die Studer auf den heimischen Tisch gelegt hat, jenes Blatt Papier, mit dem seinerzeit der Tod des Schweizer Geologen seiner Frau gemeldet wurde. Hier nun gelingt Glauser etwas (und ich kann und will es gar nicht nacherzählen), das in der Literatur, in der Weltliteratur auch, Seltenheitswert hat. Ich meine: Eine unglückliche Ehe zu schildern, wie es zum Beispiel Gustave Flaubert so meisterhaft in Madame Bovary gelungen ist, ist – nichts für Ungut – relativ einfach. Aber Glauser gelingt es hier auf knapp einer Seite eine Ehe zu schildern, die auch nach Jahrzehnten immer noch glücklich ist – auch und gerade wenn der Mann ständig von jenem Meitschi schwärmt, das mit ihm im Zug von Paris nach Basel im gleichen Abteil saß und das sich als Tochter der einen ermordeten alten Frau entpuppte, während Frau Studer sich über ihn amüsiert und so nebenbei die Fieberkurve entziffert, die nämlich gar keine ist, sondern Teil einer verschlüsselten Botschaft. Das alles zu erzählen, ohne Wörter wie „glücklich“ etc. zu verwenden, ja sogar ohne dass der Eindruck erweckt wird, Studer wisse um seine glückliche Ehe – das ist ganz große Kunst und Glauser gelingt sie. Nur schon für diese eine Seite lohnt es sich, den Roman zu lesen.
Ende der Durchsage.