Auch dieses Mal werde ich À l’ombre des jeunes filles en fleurs nicht bis zum Schluss lesen. Man soll sich – auch und gerade mit feinster Kost – ja nicht den Magen verderben. Und vor allem in À l’ombre des jeunes filles en fleurs sind so viele Trouvaillen versteckt, dass eine langsame Lektüre das einzig mögliche ist.
Wir erinnern uns: Wir haben unseren Ich-Erzähler verlassen, wie er sich so langsam seine Liebe zu Gilberte abgewöhnte. Dieser Prozess ist natürlich noch lange nicht beendet. Er erlebt immer wieder Rückschläge, auch wenn er immer weniger an sie denkt. Wir finden in diesem Abschnitt auch eine längere Passage, in der er darüber nachdenkt, warum er eigentlich sich und Gilberte diese Liebe abgewöhnen will. Denn eigentlich liebt er sie ja. Oder liebte sie zumindest zu Beginn des Abgewöhnungsprozesses noch. Diese Überlegungen sind sehr detailliert geschildert, aber merkwürdig inkonklusiv. Sie mögen auf das Ich selber stringent wirken, als Außenstehende haben wir kaum eine Möglichkeit, seine Gedanken nachzuvollziehen, zu speziell ist dieses Ich gestrickt.
Neben erneuten satirischen Seitenhieben auf die Damen der bürgerlichen Gesellschaft, die sich überlegen, wann sie mit wem auf welche Abendgesellschaft gehen sollen, um den maximalen Profit an … ja an was? … zu haben, finden wir auch erste Hinweise auf Balbec, den Ort an der Küste, an der unser Ich eine weitere Stufe seiner Entwicklung erklimmen wird, und auch Albertine wird zum ersten Mal prominent beim Namen genannt, erscheint aber noch nicht persönlich. (Dass Proust ständig abzuschweifen scheint und vom Hundertsten ins Tausendste kommt, darf nicht davon ablenken, dass er die Fäden der Geschichte konsequent in der Hand hält und mit präzisen Andeutungen die Fortsetzung derselben andeutet.)
Dann macht die Geschichte – auch das typisch für Prousts Vorgehen – einen Sprung nach vorne um zwei Jahre. (Proust kann sich lange an einem Ereignis verweilen und die Erzählzeit weit über die erzählte Zeit ausdehnen – um dann plötzlich einen Zeitsprung um Jahre zu machen.) Noch immer ist unser Ich in Gilberte verliebt, aber er hat sie sich schon fast ganz abgewöhnt. Nur manchmal, mehr aus Gewohnheit, denkt er noch an sie und liebt sie noch. Als Kulmination seiner Abgewöhnung, um auch die letzten Gewohnheiten zu brechen und auch, weil er sich schon so lange gewünscht hat, die dortige Kathedrale zu sehen, soll er nun aber eine Reise nach Balbec unternehmen. Früher, raisonniert der Ich-Erzähler etwas melancholisch, als er nach Venedig hätte gehen können, wollte er Paris nicht verlassen, weil das bedeutet hätte, Gilberte zu verlassen. Heute, als es ihm nichts mehr ausmacht, Gilberte allein in Paris zu lassen, lässt sein Gesundheitszustand eine Reise nach Venedig nicht mehr zu. (Was übrigens nicht nur auf die fast identische Situation Swanns am Schluss von Un amour de Swann zurück weist, sondern auch ein Hinweis darauf ist, dass wir den Ich-Erzähler nicht mit dem Autor verwechseln dürfen. Proust hat – unter anderem – sehr wohl, mit seiner Mutter, aber auch ohne sie, Venedig besucht.) Dass ihn seine Mutter nicht begleiten kann, führt zu einer weiteren Krise im Zustand des Ich-Erzählers. Er überwindet sie und die Angst vor dem Fremden, und wirft seine ganze Zuneigung auf dieser Reise auf seine Großmutter, die ihn an Stelle der Mutter begleitet.
Auf der Bahnreise nach Balbec finden wir eine der schönsten Passagen in Proust, als der Ich-Erzähler am Morgen in seinem Abteil erwacht und zunächst die Natur draußen sieht (und uns Lesenden schildert) und dann ein junges Bauernmädchen, das an einer Haltestelle mit Kaffee hausieren geht. (Als sich allerdings der junge Mann dann endlich entschlossen hat, auch einen Kaffee bestellen zu wollen, fährt der Zug bereits wieder ab.) Um diese Szene wird jeder Reiseschriftsteller / jede Reiseschriftstellerin Proust beneiden müssen, und ich will gar nicht erst versuchen, sie nachzuerzählen. Das muss man selber lesen.
In Balbec nun gerät der bürgerliche Ich-Erzähler mehr und mehr in den Sog des Adels. Er trifft jede Menge Mitglieder der weit verzweigten Familie der Guermantes – hierin weist Proust also bereits auf das nächste Buch voraus. Da ist zunächst die Jugendfreundin seiner Großmutter, Madame de Villeparisis. Mit ihr unternehmen Großmutter und Enkel gemeinsame Tagesausflüge und sie ist es, die versucht, den jungen Mann von seiner schwärmerischen Verehrung für die französischen Romantiker zu heilen. (Er kann sich, wenn nachts der Mond aufgeht, nicht enthalten, ihr eine – seiner Meinung nach – besonders schöne Passage aus einem Gedicht von Hugo, Chateaubriand oder Vigny über den Mond zu rezitieren.) Er trifft zum ersten Mal auf Saint-Loup, dessen unverschämt wirkende Art ihn zunächst abstößt, mit dem er sich dann aber rasch befreundet. Auch der Baron de Charlus taucht auf. Er versucht, mit dem jungen Mann anzubandeln, der in seiner Naivität aber nicht merkt, worauf Charlus eigentlich hinaus will. Last but not least ist da Bloch, dieser seltsame Jugendfreund, den der Ich-Erzähler trifft, wie er in einem Festzelt laut antisemitische Parolen in die Luft schreit.
Hiermit ist der Teppich ausgelegt für den Schluss des Buchs À l’ombre des jeunes filles en fleurs. Oder, wie es früher immer so schön hieß: Fortsetzung folgt.