Epiktet ist in gewissem Sinn der Vorzeige-Stoiker der antiken (römischen) Philosophie. Während der früher schreibende Cicero (den ich auch schon als Stoiker bezeichnet gefunden habe) eindeutig Eklektiker ist und sich denn auch völlig unstoisch in die Tagespolitik gemischt hat, der ebenfalls früher wirkende Seneca neben seiner Neigung zur Eklektik vor allem durch seine Verbindung mit Kaiser Nero eine etwas zwiespältige Figur darstellt, ist der an der Schwelle vom ersten zum zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung lehrende Epiktet eine Art Lichtgestalt der Stoa. Das liegt zum einen in seiner Biografie begründet: Der freigelassene Sklave, der (wohl eine Tat eines jähzornigen Herren) stark hinkte, dann aber in Rom ein bekannter Lehrer der Philosophie wurde, bis er (mit allen anderen Philosophen) 89 oder 94 von Kaiser Domitian aus der Stadt und aus Italien gewiesen wurde und sich in Nikopolis im damaligen Griechenland eine neue Existenz als Lehrer aufbaute, hatte wahrlich kein einfaches Leben. (Es muss allerdings gesagt werden, dass sein Ruhm in Rom schon so groß war, dass ihm die meisten seiner Schüler – auch hochgestellte Römer – ins Exil folgten.) Vor diesem Lebenshintergrund wirkt die stoische Lehre, die Epiktet predigte, natürlich viel glaubwürdiger als vor dem des reichen und mächtigen Höflings Seneca.
Es passt auch ins Bild, dass Epiktet keine eigenen Schriften verfasste bzw. veröffentlichte. Was wir von ihm haben, sind eine Art Vorlesungsnachschriften, die sein Schüler Arrian geschrieben und nach Epiktets Tod veröffentlicht hat. (Es handelt sich dabei um den gleichen Arrian, der auch die Geschichte der Eroberungszüge Alexanders des Großen geschrieben hat.) Von diesen Nachschriften gibt es zwei Versionen. Die längere (bei der man heute nicht sicher ist, wie viel Arrian von anderen Philosophen später noch eigenmächtig hinzu gefügt hat) und einen Auszug, sentenzen- und lehrbuchhaft. Beide sind im Koiné, der damaligen griechischen Umgangssprache gehalten. Vor allem durch diesen Auszug (gr. Ἐγχειρίδιον – encheirídion; auf Deutsch meist als Handbüchlein der Moral übersetzt), der die von Epiktet durchaus auch gelehrten stoischen Disziplinen der Logik und der Physik / Kosmologie praktisch völlig zu Gunsten der Ethik vernachlässigt, ist der antike Philosoph bis heute ein Begriff geblieben.
Dabei sah es lange Zeit so aus, als ob er der Vergessenheit anheim fallen würde. Mark Aurel erwähnte ihn noch, ebenfalls Lukian von Samosata. Als erster Kirchenvater nannte ihn Origenes. In Ost-Rom (Byzanz) ging er nie ganz vergessen, aber im lateinischen West-Rom bzw. den Nachfolgestaaten war er schon bald ein Unbekannter. Die lateinische Patristik wusste kaum von ihm, obwohl Plotin ihn wahrscheinlich gelesen und einiges von ihm übernommen hat (allerdings ohne ihn beim Namen zu nenen). Erst in der Zeit der Renaissance, als mit dem Untergang des byzantinischen Reichs die griechisch sprechenden Gelehrten nach Westen flohen, kam auch die Kenntnis Epiktets wieder zu uns.
Dass er zwischenzeitlich vergessen ging, wundert um so mehr, als seine Lehre in vielem stark christlich anmutet. Die Verachtung des Körpers, der Lust in jeder Spielart und äußerlicher Annehmlichkeiten teilt Epiktet nämlich durchaus mit den alten Christen. Er selber greift, neben stoischen, vor allem auf kynische Quellen zurück; nach Sokrates ist der am meisten genannte Philosoph der Kyniker Diogenes von Sinope. Epiktets Lehre, wie sie uns im Handbüchlein vor Augen tritt, ist einigermaßen simpel. Es gibt für Epiktet zwei Bereiche des Daseins. Einen, der in unserer Gewalt steht: unsere Meinung, unser Handeln, unser Begehren und Meiden – kurz: all unser Tun, das von uns aus geht, und einen, der nicht in unserer Gewalt steht: unser Leib, unser Besitz, Ansehen, äußere Stellung. (Beide Zitate aus dem ersten Paragraphen des Handbüchleins – und mehr als diesen muss man eigentlich auch nicht gelesen haben, um zu wissen, worum es Epiktet geht.) Um das, was in unserer Macht steht, sollen wir uns denn auch kümmern und was nicht darin steht am besten sein lassen. Nur so werden wir nach Epiktet das stoische Ideal der Gelassenheit und Seelenruhe (Ataraxie) erreichen.
Wenn man Epiktets diesbezüglichen Ratschläge so durchliest, erinnert er in vieler Hinsicht an die gut meinenden Geistlichen des 18. oder 19. Jahrhunderts, die – selber in simpler Bescheidenheit lebend – dieses Ideal sich auch für alle andern vorstellen können. Es ist eine Art heiligen Egoismus, auf den wir bei Epiktet stoßen. Meiner Seele soll es gut gehen, schon mein Körper spielt keine Rolle – von den Seelen und Körpern anderer schon gar nicht zu sprechen.
Gelesen in der Übertragung und mit der Einleitung von Wilhelm Capelle. Zürich / München: Artemis, 1958.