David Crystal’s gerade erst besprochenes Buch The Stories of English mit seinen von Zeit zu Zeit abgeschossenen Pfeilen gegen jene (meist selbst ernannten) Sprach- und Stilpäpste, die unter einem dünnen und nicht wirklich gerechtfertigten ästhetischen Vorwand („ist schön / ist nicht elegant“ etc.) eine ebenso wenig gerechtfertigte Sprachnorm propagieren, hat mich daran erinnert, dass ich seit ziemlich genau 30 Jahren dieses Buch von Willy Sanders in meiner Bibliothek stehen habe. Ausnahmsweise habe ich es sogar sofort gefunden und (nicht zum ersten und auch nicht zum zweiten Mal) gelesen.
Einige Parallelen zwischen den beiden Büchern sind unübersehbar. Da ist schon die Tatsache, dass beide Autoren von Haus aus Linguisten sind, hier aber für Laien schreiben. Bei Sanders ist das aber die Ausnahme; es gibt meines Wissen nur noch ein anderes Buch (Gutes Deutsch – Besseres Deutsch. Praktische Stillehre der deutschen Gegenwartssprache), das er für Laien geschrieben hat – bezeichnenderweise zum gleichen Thema, nur dass seine Stillehre als praktisches Gegenbeispiel zu den hier theoretisch verrissenen Büchern stehen soll. Ich meine, es auch irgendwann mal gelesen zu haben, aber in meinem Besitz ist es nicht (mehr).
Crystal hat sein Thema allerdings weiter gefasst: eine Geschichte der englischen Sprache unter besonderer Berücksichtigung der Dialekte, deren Aufkommen, Verschwinden und Wieder-Aufkommen. Da sind jene Sprachpuristen, die einen unveränderlichen Standard propagieren, für ihn nur eine (allerdings nicht unwichtige!) Randerscheinung. Sanders andererseits widmet sich voll und ganz diesen Sprach- und Stilpuristen (und auch -puristinnen, denn anders als bei Crystal tauchen in seiner Liste auf Frauen auf) und beschränkt sich seinerseits auf die deutsche Sprache. Ja, er schränkt noch weiter ein auf die Publikationen des 20. Jahrhunderts, angefangen bei Wustmann an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, über Engel (der als Vierteljude im Dritten Reich verboten wurde), Reiners bis zu Süskind und Wolf Schneider. Das Buch ist 1992 erschienen – es fehlt also Bastian Sick, dessen Stern erst im 21. Jahrhundert aufging. Allerdings habe ich seit rund 10 Jahren von ihm nicht mehr viel gehört oder gelesen; es scheint sich bei ihm weniger um einen Stern als um einen Kometen gehandelt zu haben. Wie dem auch sei: Was Sanders für Wustmann & Co. festhält, lässt sich 1:1 auf Sick übertragen. Im Sprachpurismus nichts Neues …
Ich habe schon bei der Besprechung von Crystal’s Buch darauf hingewiesen, dass sehr viele der von ihm beschriebenen sprachlichen und sprachpuristischen Entwicklungen ihr Gegenstück in der deutschen Sprache aufweisen. Die Ausformung eines Standards auf Grund der Bedürfnisse von Handel und Verwaltung fand auch im deutschen Sprachraum zu etwa derselben Zeit statt; unser Johnson hieß Johann Christoph Adelung. Unterstützung erhielt er an vorderster Front von einem anderen Johann Christoph: Gottsched. Und seither haben im Deutschen wie im Englischen die Sprachpurist:innen in jeder Abweichung von ihrer Norm den Untergang der Sprache gesehen, und im Untergang der Sprache einen Untergang der Sitten und darin gleich den Untergang der Gesellschaft. Ebenfalls haben seither im Deutschen wie im Englischen die Sprachpurist:innen noch im selben Text, in dem sie eine sprachliche Unsitte monierten, beklagten und korrigierten, diese Unsitte selber verwendet. Last but not least sind es in beiden Sprachen seit 100 Jahren immer wieder dieselben Unsitten, die angeprangert werden. Dass der Sprachgebrauch in diesen Fällen seit 100 Jahren über sie hinweg geht, scheint Purist:innen nicht zu irritieren.
Sanders stellt einige der typischen Beanstandungen natürlich ebenfalls vor, kann als Linguist dann aber auch festhalten, warum sie teilweise ganz einfach falsch, teilweise aber auch hyperkorrekt sind. Im täglichen Leben sprechen und schreiben wir aber nicht hyperkorrekt. Ich möchte hier gar nicht auf die einzelnen Beispiele eingehen – wer in irgendeiner Sprach- oder Stilfibel blättert, wird sie zuhauf finden.
Sanders weist den entsprechenden Autor:innen nach, dass sie – zum Teil offenbar seitenlang – von einander abschreiben. Die mehr oder minder theoretischen Texte einerseits, aber auch die Beispiele. Genaue Nachweise der Zitate fehlen – schon viel, wenn der Name des Verfassers da steht. Das führt dann auch schon mal dazu, dass ein Späterer einen Satz kritisiert, den er ganz offenbar bei einem Früheren gefunden hat – ohne zum Beispiel zu bemerken, dass dieser seinerseits den Satz aus einer Sprachsatire von Karl Kraus genommen hat. Wenn Satire ernst genommen wird, wird es wiederum satirisch. Wenn gerade keine Beispiel in der Literatur zu finden ist, konstruieren die Sprach- und Stilkritiker:innen sich auch gerne eigene, natürlich völlig übertreibende. Die werden dann ihrerseits als tatsächlich in der Literatur gefundene Beispiel weiter tradiert.
Sprachkritik, die sich selber selber perpetuiert …
Auch wenn ich den (laut Verfasser von den Stilkritiker:innen des 20. Jahrhunderts satirisch aufgenommenen) Plauderstil mit vielen (Sprach-)Witzchen nicht unbedingt mag (auch bei den Originalen nicht!), halte ich das Buch doch für lesenswert. Als „Fachler“ (eben: Sprachwissenschaftler) hält Sanders den Sprachgebrauch für die einzig mögliche Richtlinie in Sprechen und Schreiben – worin ich völlig seiner Meinung bin.
Willy Sanders: Sprachkritikastereien und was der „Fachler“ dazu sagt. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1992.