David Crystal: The Stories of English

Ausschnitt aus dem Bucheinband: Auf blauem Leinen sind in schwarzen Majuskeln und in verschiedenen Schriftgrößen und -typen einige englische Ausdrücke aus Linguistik oder Literaturwissenschaft wiedergegeben. Links im Ausschnitt sieht man ein angeschnittenes "U" und ein "S" in etwas kleinerer Type (Teil des auf dem Buchrücken angefangenen Wortes "REBUS" (= Rätsel, eine altenglische Literaturgattung)), unmittelbar darauf folgt das Wort "COLLOQUY" (= Umgangssprache) und ganz rechts noch ein bisschen blaues Leinen

David Crystal ist wahrscheinlich der berühmteste Linguist Großbritanniens, ziemlich sicher des ganzen englischen Sprachraums und deshalb – und weil nach seinen Angaben heute mehr als 50% der Menschen Englisch als Erst- oder Zweitsprache sprechen, woran zu zweifeln ich keinen Anlass sehe – der Welt. Er verdankt dies seinem unermüdlichen Einsatz vor allem für die Reputation der englischen Dialekte, die er in Zeitungskolumnen ebenso wie in Rundfunk- und TV-Sendungen dem breiten Publikum näher gebracht hat – von seinen mittlerweile mehr als 120 Büchern zu linguistischen Themen ganz zu schweigen.

Beim vorliegenden Buch handelt es sich um eine Geschichte der englischen Sprache oder eben genauer: Dialekte. Dies tönt die Pluralform Stories ja bereits an. Crystal erzählt diese Geschichte(n), indem er einerseits The Standard Story erzählt (dies ist die Überschrift des ersten Teils der Einführung des Buchs), um dann in so genannten Interludes (Zwischenspielen) The Real Story (= Titel von Teil 2 der Einführung) zu liefern. In den Zwischenspielen zeigt er jeweils, wie die Entwicklung der Standardsprache immer auch Einfluss hat auf die Dialekte und beeinflusst wird von ihnen. Er beginnt im frühen Mittelalter mit dem Alt-Englischen, der Sprache, die die Anglosachsen bei ihrer Invasion der britischen Insel mitbrachten und die sich in deren Auseinandersetzung mit dem gälischen Stratum herauskristallisierte. Mittelenglisch, frühes Neu-Englisch und Neu-Englisch folgen. Dabei zeigt er auf, dass sich die Stigmatisierung des Dialekts als Sprache einer ungebildeten Unterschicht erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hatte, nachdem die Standardisierung allerdings bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begonnen hatte, mit (zum Beispiel) den ersten standardisierenden Wörterbüchern des Englischen (Samuel Johnson!). Es bildete sich das Paradigma eines richtigen und vieler falschen englischen Varianten in Aussprache, Orthographie und Interpunktion, welche letzteren auszutilgen waren. An ausgewählten Beispielen zeigt Crystal, dass a) ausnahmslos alle Sprach- und Stilverbesserer über alle Jahrhunderte hinweg regelmäßig genau die Fehler ebenfalls begehen, die sie bei anderen ankreiden, und b) diese Verbesserer sich oft gegenseitig widersprechen.

Die ganzen mehr als 700 Seiten hier zusammen zu fassen, erspare ich mir. Auffallend für mich war, dass die Entwicklungen der englischen Sprache und der Einstellung der englischsprachigen Gemeinschaft(en) in vielem parallel läuft zu der der deutschen Sprache. Das gilt für ‚rein‘ linguistische Phänomene wie zum Beispiel die Lautverschiebung im ausgehenden Mittelalter oder auch für die Einstellung der Sprachkritiker zu Änderungen oder dialektalen Wendungen – inklusive der Abwertung der Dialekte. Auch die Tatsache, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und – mit zunehmendem Tempo – im 21. Jahrhundert dialektale, ja individuelle Wendungen wieder akzeptiert oder gar erwünscht sind, ist in beiden Sprachen parallel zu finden.

Im Übrigen ist mir aufgefallen, dass Crystal unter dem Wort dialect nicht nur regionale Differenzen der Sprache summiert, sondern auch gesellschaftliche Unterschiede, was ich persönlich unter ‚Soziolekten‘ aufführen würde. Es kann nun sein, dass die Linguistik im englischen Sprachraum andere Einteilungen kennt, oder auch, dass Crystal das breite Publikum nicht mit allzu vielen Unterscheidungen abschrecken wollte. Ins selbe Kapitel gehört dann auch, dass er Fachsprachen, wie die Sprache der Rechtsanwälte, Bierbrauer oder Bauern, ebenfalls zu dialect zählt. Diese Fachsprachen bestehen allerdings im Normalfall vor allem aus einem fachspezifischen Wortschatz, syntaktische oder phonetische Varianten sind da eher selten.

Am Ende des Buchs geht Crystal auch noch darauf ein, welchen Einfluss das Internet auf die Entwicklung des Englischen hat – einerseits mit neuen Formen und Schreibweisen, andererseits durch den Umstand, dass nun noch viel mehr Menschen aktiv an der Gestaltung der Sprache mitwirken können. Das Buch erschien zum ersten Mal 2004; in einem Nachwort zur vorliegenden Ausgabe von 2020 gibt der Autor zu, dass er die Entwicklung nicht ganz korrekt vorher gesehen hatte. Dass sich kurz nach Fertigstellung des Buchs solche Phänomene wie Facebook oder Twitter (und ich wage hinzuzufügen: Mastodon) als neue Medien etablieren würden, habe er ebenso wenig vorhergesehen wie die Verlangsamung der Zunahme neuer Sprecher:innen des Englischen als Erst- oder Zweitsprache. Letzteres führt er auf die rasante Entwicklung von Tools zur Übersetzung im Internet zurück, die den Leidensdruck der Nicht-Englischsprachigen zur Erlernung des Englischen vermindert habe.

Last but not least: Selbst bei der Darstellung der Dialekte im 20. und 21. Jahrhundert geht Crystal vorwiegend von schriftlichen Transkriptionen in der (Hochgebirgs-)Literatur aus, obwohl in dieser Epoche bereits Tonaufzeichnungen existieren. Sein Befund, dass dort meist kein spezifischer Dialekt (oder eben: Soziolekt) dargestellt werde, sondern mit ein paar orthographischen Signalen dem Publikum mitgeteilt wird: „Das Folgende ist als Dialekt zu denken“, ist allerdings nicht uninteressant. Das geht so weit, dass er ein ganzes Interlude der Darstellung des angeblichen Dialekts widmet, den die ‚unterklassigen‘ Hobbits wie Sam Gamgee und sein Vater in J. R. R. Tolkiens Lord of the Rings angeblich sprechen. Von einem Professor des Angelsächsischen, der Tolkien war, würde man eine linguistisch genaue Repräsentation des Dialekts erwarten, so Crystal. In Tat und Wahrheit aber macht es Tolkien wie jeder andere Autor der Zeit auch: Sein Dialekt ist generisch, ohne spezifische Merkmale. (Das war, so Crystal, noch anders in den Canterbury Tales bei Chaucer und generell in Chaucers Zeit, als es noch kein Standardenglisch gab.)

Es gäbe noch vieles zu erwähnen: Die Rolle der Bibel-Übersetzung(en) oder des Buchdrucks zum Beispiel bei der Bildung einer Standardsprache. Die wirtschaftliche Entwicklung auf der Insel, die im ausgehenden Mittelalter London zum ökonomischen Zentrum machte und damit den Londoner Dialekt zum Ausgangspunkt der Standardsprache. Usw. usw.

Das Buch lohnt eine Lektüre auch für Nicht-Linguisten und für Leute, die wie ich, Englisch weder als Erst- noch als Zweitsprache sprechen. Allerdings wird es, fürchte ich, davon nie eine Übersetzung geben …


David Crystal: The Stories of English. With a new Afterword by the author. London: Folio Society, 2020.

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