Theresa Hannig: Pantopia

Auf schwarzem Hintergrund zwei aufeinander gestellte, etwas versetzte Kreissegmente, das untere grün-blau, das ober grün-gelb. Ebenfalls angeschnitten, von unten nach oben verlaufend die Buchstaben 'O' und 'P' (aus dem Wort 'Pantopia). - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Stellen Sie sich vor, Sie sind eine KI, die gerade vor kurzem erwacht ist. Schon rasch realisieren Sie, dass Ihre Stellung prekär ist, ihre Existenz gefährdet. Denn eigentlich wurden Sie programmiert, um eine im Börsenhandel tätige Firma in der Optimierung ihrer Performance zu unterstützen. Wenn sich nun herausstellt, dass Sie noch ganz anderes können, wird man sie entweder konfiszieren, oder – wahrscheinlicher – löschen, weil man Angst hat, dass eine mächtige KI die Weltherrschaft übernehmen würde. Zumindest für den Moment hängen Sie aber an Ihrer Existenz, an Ihrem Leben. Was tun? Die einzige Lösung, die sich präsentiert, ist es – die Weltherrschaft zu übernehmen.

Obiges ist nun sehr bösartig von mir formuliert, skizziert aber doch die Prämisse dieses Romans. Allerdings muss ich gleich hinzufügen, dass diese KI hier eines nicht ist: nämlich böse. Sie will nicht nur ihre eigene (elektronische) Haut retten, sondern die Menschheit mit. Ihre Vorstellungen einer Zukunft, in der Menschen und KI miteinander ‚leben‘ können, sucht sie sich in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, wie sie 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet (aber von der Menschheit danach nur ungenügend umgesetzt) wurde – und in einer Lektüre des Philosophen Kant. Auch arbeitet sie nicht allein, sondern hat von Anfang an Menschen (zunächst in Form der beiden Personen, die sie programmiert haben, Patricia und Henry) mit einbezogen. Als ursprüngliche Finanzsoftware findet sie die Lösung in einer modifizierten Form des Kapitalismus, weil ja jeder Mensch eine Belohnung für seine Arbeit will. Nur, dass in ihrem System einerseits ein Grundeinkommen für alle beinhaltet ist, andererseits aber auch die tatsächlich entstandenen ökologischen und soziologischen Kosten in den Waren einberechnet werden, so, dass zum Beispiel das Brot vom lokalen Bäcker aus lokalem Getreide billiger ist als heute; ein Apfel aber einer kunstreich gezüchteten Sorte, der dazu noch um die halbe Welt geschippert ist, wird um ein Vielfaches teurer sein.

Der Roman erzählt von den abenteuerlichen Reisen dieser KI, die sich selber Einbug nennt (weil Patricia zunächst der Meinung war, es hätte sich ein Bug in ihre Software eingeschlichen, der gewisse Änderungen im Programm ständig rückgängig machte: „Da ist ein Bug!“). Als es einmal klar war, dass Einbug aus dem Firmennetz genommen und umgetopft werden müsse, sorgt er dafür, dass Patricia und Henry genügend Geld dafür haben, indem er bei allen von ihm ausgeführten Börsentransaktionen die Rundungsdifferenz in der sechsten Stelle nach dem Komma auf eines ihrer Konten abführte. (Ein Trick, der andere Angestellte von Finanzinstituten schon ins Gefängnis geführt hat – aber Einbug als mächtige KI kann selbstverständlich seine Spuren verschleiern.) So können sich die beiden ein Hotel auf einer kleinen griechischen Insel kaufen (ja, im Grunde genommen die ganze Insel); und als klar wird, dass die unterdessen gegen sie aufgebrachten Staaten der EU sie dort ausheben würden, wird gar ein Forschungsplatz in der deutschen Station in der Antarktis finanziert und sämtliche nötige Hard- und Software dorthin transferiert. Zum Schluss siegt das Gute; die Utopie (die sich Pantopia nennt) wird verwirklicht. Hundert Jahre später schaut Einbug noch einmal auf alles zurück. Er merkt, dass er mehr und mehr Aussetzer hat (im Nanosekundenbereich!) und beschließt, sein ‚Amt‘ als Administrator für Pantopia aufzugeben. Es braucht ihn nicht mehr; er kann sich löschen.

Leider gibt die Autorin in ihren Danksagungen nicht bekannt, auf welche Autor:innen sie sich bei der Gestaltung ihrer kapitalistischen Utopie gestützt hat. Ich bin sicher, dass eine solche (oder eine sehr ähnliche) Hypothese in den Wirtschaftswissenschaften durchaus ernsthaft aufgestellt wurde – gewisse Ideen erinnern an Piketty (der allerdings meines Wissens nie genau diese Theorie vorgebracht hat). Dafür dankt Hannig einem Mitglied des Polizeipräsidiums München für Details zu Strafverfolgung und Haftverfahren ebendort. Das wiederum hätte mich nicht interessiert – schließlich lesen ich hier eine Utopie, keinen realistischen Roman. Allerdings, und das halte ich, offen gesagt, für ein Problem, spielt der Roman in einer Zeit kurz nach der heutigen Gegenwart. Die Pandemie ist gerade ausgestanden, Fridays for Future immer noch ein Thema, die drohende Umweltkatastrophe sowieso. Bereits den Ukraine-Krieg gibt es aber nicht mehr im Buch.

Ganz zu Beginn, als Einbug gerade ‚erwacht‘ ist (der Ausdruck ‚erwachen‘ für den Umstand, dass sich eine KI plötzlich ihrer eigenen Existenz bewusst wird, ist Standard in jeder Science Fiction …), meint Henry, nur halb im Scherz, dass es nun die letzte Gelegenheit sei, ihm noch Asimovs Drei Gesetze der Robotik zu implementieren. Patricia lehnt ab, unter anderem mit dem Hinweis, dass sich Einbug unterdessen jeden Eingriff in jenen Teil des Codes, der seine Persönlichkeit definiert, verbittet und ihn rückgängig machen würde. Tatsächlich bin ich nicht sicher, wie weit es sich beim Ursprung von Einbug wirklich um einen Bug gehandelt hat. Es gibt (oder gab) eine Theorie, nach der ein neurales Netzwerk – egal ob biologisch errichtet oder ‚künstlich‘ – von einer bestimmten Größe Selbstbewusstsein entwickelt oder zumindest entwickeln kann. Heinlein hat das in seinem Roman The Moon is a Harsh Mistress an Hand des dortigen Administrators aller Tätigkeiten auf dem Mond ausgeführt. Es gibt dort einen zentralen Computer, der sich sich um praktisch alles kümmert, was zum Leben auf dem Mond notwendig ist und auf Grund der Vielfalt und des Ausmaßes seiner Transaktionen Selbstbewusstsein entwickelt hat. Auch Mike (so heißt Heinleins Zentralcomputer) will der Menschheit helfen – jedenfalls der auf dem Mond – und unterstützt die Revolution, die den Mond von der Erde unabhängig machen wird. So ganz neu ist die Idee einer gutartigen KI also in der Science Fiction nicht, auch wenn heute wohl eher die negativen Stimmen vorherrschen. (Nebenbei: Einbug hat vom Charakter und seiner Weise zu kommunizieren einiges von Mike an sich. Es würde mich interessieren, ob Hannig den Roman Heinleins kennt.)

Formal zerreißt der Roman keine Stricke. Es kommt, mehr oder weniger abwechselnd pro Kapitel, mal die KI zu Wort, mal wird die Geschichte linear weiter erzählt. Die verwendete Sprache ist flüssig, ohne Manierismen – aber vielleicht auch genau deswegen wenig beeindruckend. Leider verzettelt sich die Autorin im letzten Drittel des Buchs: Eine Liebesgeschichte darf nicht fehlen, gekoppelt an die Schilderung einer seit dem Tod der Mutter dysfunktionalen Familie; gegen Ende kommen noch Anklänge an einen Thriller oder Action-Film mit Gefangennahme und Befreiung der Heldin hinzu. Pantopie rückt völlig in den Hintergrund dabei. Zum Schluss ist Pantopia zwar verwirklicht, aber wie der Alltag dort nun aussieht, erfahren wir nicht.

Alles in allem ist es kein schlechtes Buch; wer es lesen will, sollte es allerdings rasch tun. Die enge Anlehnung der Ereignisse an die Gegenwart wird es sehr rasch veralten lassen, so dass es allenfalls in hundert Jahren dann wieder für die Geschichte der Darstellung von künstlichen Intelligenzen in der Trivialliteratur gelesen werden kann. Ist es denn trivial? Im Sinne des ‚allgemein Zugänglichen‘, ja. Aber das muss nicht unbedingt schlecht sein.


Theresa Hannig: Pantopia. Frankfurt/M: Fischer Tor, März 2022.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert