Heinrich von Kleist: Amphitryon, ein Lustspiel nach Molière

Teil des golden in braunen Karton geprägten Logos des Tempel-Verlags, bestehend aus den übereinander gestellten Fraktur-Buchstaben D, T und V, sowie ein paar Ornamenten. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Bereits der Untertitel weist darauf hin: Ursprünglich hatte Kleist nur eine Übersetzung der Komödie Molières geplant. Unter der Arbeit daran aber entwickelte sich das Stück weiter und nahm gegen Ende Züge einer Tragödie an. Zum einen lag das wohl daran, dass sich in den 135 Jahren, die zwischen den beiden Amphitryon-Versionen liegen, die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse grundlegend geändert hatten. 1668, als Molière sein Stück schrieb, standen wir in der Hochblüte der französischen Klassik – und in der Hochblüte des französischen Absolutismus. 1803, zu Kleists Zeit, war der Absolutismus und mit ihm die ganze höfische Gesellschaftsform mehr oder weniger Geschichte – außerdem waren die Verhältnisse in Preußen schon immer ein wenig anders gewesen. Es lag aber auch, und darauf komme ich noch, an Kleists Persönlichkeit selber, dass sein Amphitryon so ganz anders wurde als der Molières oder auch von dessen Vorbild Plautus.

Zunächst, um Molières und Kleists Amphitryon miteinander zu vergleichen, verzichtete der Deutsche auf ein Vorspiel. Weder ließ er wie Plautus die Schauspieler aus ihren Rollen treten und über ihr Schicksal referieren, noch ließ er wie Molière Merkur und die Nacht auftreten, wie sich sich gegenseitig darüber beklagen, dass sie letzten Endes nur dafür da sind, die Erfüllung der Wünsche des geilen Bocks Jupiter zu ermöglichen. (Was dann, wenn er später Sosias bei jeder Gelegenheit prügeln wird, den Gott Merkur zum Angestellten des mittleren Managements verwandelt, der einen auf Radfahrer macht: nach oben buckeln, nach unten treten.) Mit dem Wegfall der Einführung wird Merkur bei Kleist zu einer relativ gesichts- und wesenlosen Gestalt – einem Schläger, der ohne Grund hinlangt. Aber was Merkur an Statur verliert, gewinnen andere Gestalten.

Nicht Sosias – der bleibt dem Molière’schen verblüffend ähnlich. Das mag auch daran liegen, dass sich die Rolle einer Offiziersordonnanz in den 135 Jahren seit dem Franzosen nicht groß verändert hatte. Bedienstete waren sich noch immer schlechte Behandlung und Schläge gewöhnt, und dass man ihnen ihre Identität nahm, indem man sie bei anderen Namen als ihrem Taufnamen rief, war Usus. So haben wir auch in Kleists Sosias einen Menschen, der versucht, das Beste aus der Situation zu machen. Er verhandelt mit Merkur, ob er nicht doch noch ein kleines Stückchen ‚Ich‘ behalten könne, zumindest, wenn er (Merkur) nicht da sei, oder er akzeptiert Merkur als seinen älteren Zwillingsbruder. Merkur weist das alles zurück, aber das hindert Sosias nicht daran, von sich selber als ‚Ich‘ zu reden, wenn er Amphitryon berichtet, wie es ihm zu Theben ergangen ist – nur, dass er auch Merkur als ‚Ich‘ bezeichnet, was grammatikalisch-semantisch einen ziemlichen Salat ergibt, so dass Amphitryon kein Wort von Sosias’ Ausführungen versteht. Hier ist Molières Komik noch vorhanden – als Tünche aber nur.

Anders aber steht es Amphitryon selber, der in Kleists Drama immer mehr in den Mittelpunkt rückt. Zunächst scheint es noch, als würde Kleist den geänderten Gegebenheiten Rechnung tragen und aus Molières Gesellschaftskomödie eine Satire über den Ehrbegriff des preußischen Offiziers machen – ein Phänomen, das ein von Kleist, Sprössling uralten Militäradels, nur zu gut kannte, und das er später im Prinz Friedrich von Homburg wieder aufgreifen würde. Doch mit oder über Preußen mag Kleist nicht scherzen. Statt dessen verfolgen wir mit, wie bei Amphitryon (und wohl auch beim Autor) das Grauen an die Stelle des Komischen tritt. Dass hier ein zweiter Amphitryon steht, ist schon schlimm genug. Dass aber dieser zweite Amphitryon in den Augen aller anderen als der echte gilt, erschüttert nicht einfach nur sein Selbstverständnis (so, wie es ein wenig an dem des Sosias kratzt) sondern sein Verständnis von der Welt als Ganzem: Er, der in jeder Faser seines Wesens davon überzeugt ist, Amphitryon zu sein, immer schon gewesen zu sein, soll es plötzlich nicht sein? Descartes’ Rettungsinsel im absoluten Zweifel an der Erkenntnis, der Satz „Ich denke, also bin ich“, soll falsch sein? Aber, wenn ich mich nicht erkennen kann: Was kann ich dann noch erkennen? Hinter diesen Ängsten und Qualen Amphitryons stecken die Ängste und Qualen seines Autors. Kleist fiel bekanntlich durch die Lektüre von Kants Kritik der reinen Vernunft in eine existenzielle Krise, als er daraus entnehmen musste, dass wir Menschen das Ding an sich, also die reine Wahrheit, nie würden erkennen können.

Nur (ein) Gott kann Amphitryons Qualen beenden. Als sich Jupiter in seiner göttlichen Gestalt zu erkennen gibt, ist für den Menschen Amphitryon die Welt wieder in Ordnung (und, oberflächlich betrachtet, der Komödie damit doch noch Genüge getan). Seine Feldherren (die ihn gerade eben noch aus der Stadt werfen lassen wollten, weil sie Jupiter für den echten Amphitryon hielten) jubeln und sprechen von einem großen Triumph. Immerhin soll Jupiters Beischlaf nicht ohne Resultat bleiben und der so gezeugte Sohn soll der größte aller antiken Heroen werden, Herakles. Friede, Freude, Eierkuchen bei allen. Bei allen?

Nein, denn das Stück endet nicht auf diesem Ton. Amphitryon (der, das sei ihm zu Gute gehalten, spürt, dass etwas nicht stimmt) ruft seine Frau, die offenbar in den Jubel nicht einstimmt: Alkmene! Deren Antwort – und diesen Schluss halte ich für absolut genial – ist ein einfaches Ach!

Was ist passiert? Nicht nur die Feldherren, nicht nur Sosias, auch sie hat bei der direkten Konfrontation von echtem und falschem Amphitryon dem falschen, dem Gott, den Vorzug gegeben. Was bei Molière noch mehr oder weniger Gesellschaftsspiel war, ohne dass wirklich tiefe Gefühle dahinter standen – wird bei Kleist zur brutalen Realität. Kleists Jupiter verlangt, wie der Molières, von Alkmene, nachdem er eine verlängerte Nacht mit allerlei Übungen mit ihr verbracht hat, dass sie ihn, den Liebhaber, von ihm, dem Gatten, unterscheiden, ja trennen soll. Wie bei Molière will auch Kleists Alkmene dem nicht Folge leisten. Nun aber dieses Ende! Der, den sie für den echten Gatten hielt, weil er prächtiger war, majestätischer, gutmütiger, besser aussehend als der echte (der in jenem Moment davor steht, nicht nur seine Position in Theben und bei Alkemene zu verlieren sondern seinen Verstand dazu, also ganz andere Sorgen hatte, als sich um sein Aussehen und seine Wirkung auf andere zu kümmern, im Gegensatz zu Jupiter, der natürlich gelassen bleiben konnte) – der also, den sie für den echten hielt, war der falsche. Somit ist genau das eingetreten, was Jupiter von ihr verlangt hatte: Sie wird nun weiterleben müssen im Bewusstsein, dass der Geliebte, der göttliche Liebhaber, eine ganz andere Person war als der Gatte, der nun neben ihr liegt. Wenn es zu Plautus’ Zeiten noch als Ehre galt, sein Geschlecht auf eine derartige göttliche Intervention zurück führen zu können, wenn es in Molières Gesellschaft üblich war, dass ein Höhergestellter sich die Frau eines Untergebenen ins Bett holen konnte (und die meisten Ehen sowieso keine Liebesheiraten waren, sondern geschäftliche Angelegenheiten, die der Familien-AG des Mannes Vorteile bringen sollten) und letztlich weder das eine noch das andere mit ‚Liebe‘, wie wir sie heute verstehen, etwas zu tun hatte, auch wenn Molières Zeit das Wort oft und gern im Munde führte, so ist Kleists Adaption ungeheuer modern – ‚modern‘ im Sinne dessen, dass erst das 20. und das 21. Jahrhundert die Tragik Alkmenes ganz erfassen konnten. (Die Uraufführung des Stücks fand denn auch erst 1899 in Berlin, der modernsten Stadt Deutschlands, statt.)

Kants Philosophie war in vieler Hinsicht ‚alles zermalmend‘. Aber selbst wenn sie nur dieses eine Stück provoziert hätte, müsste man dem alten Mann in Königsberg ein riesigen Kranz winden. Und wer einmal Amphitryon in der Fassung Kleist kennen gelernt hat, wird weder Plautus noch Molière wieder ganz unbeschwert lesen oder sehen können.

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