Popper nannte Peirce irgendwo und -wann einmal den besten amerikanischen Philosophen (und meinte mit ‚amerikanisch‘, wie praktisch alle Europäer und alle ‚native speaker‘ des Englischen, ‚US-amerikanisch‘). Und auch wenn seither weitere US-amerikanische Philosoph:innen eigenen Ruhm gefunden haben, tendiere ich dazu, Pierce diesen Titel auch heute noch zuzugestehen.
Dabei war Peirce, wie er selber zugab, ein philosophischer Quereinsteiger. Aber genau das mag, im Falle Poppers wie in meinem, der Grund sein, warum wir ihn so hoch schätzen. Von Haus aus war Peirce nämlich Mathematiker und Logiker. Seine mathematischen Schriften lieferten durchaus qualitativ hochwertige Beiträge zu diesem Fach, sind aber für uns hier weniger interessant. In der Logik aber lieferte er wichtige Beiträge zur heutigen Standard-Notierung und befreite die Logik vor allem von der im 19. Jahrhundert üblich gewordenen intentionalen Sinngebung. Ebenfalls von ihm stammen einige der frühesten, noch heute diskutierten Beiträge zur Theorie der Zeichen.
Die vorliegende Sammlung von Texten zum Pragmatismus und Pragmatizismus erschien in dieser Form erstmals 1976 in der Reihe ‚Theorie‘ des Suhrkamp Verlags (eine Reihe, die im Zusammenhang mit der 1968er Bewegung entstanden war, nur rund 20 Jahre Bestand hatte und heute selbst bei Wikipedia vergessen ist), übersetzt von Gert Wartenberg, herausgegeben von Karl-Otto Apel. Vor mir liegt die zweite, noch im selben Jahr 1976 erschienene Auflage. Ursprünglich hatte Suhrkamp die Texte in zwei Bänden herausgegeben (1967 und 1970) mit ausführlicher Einleitung des Herausgebers. 1975 erschien dann die Einleitung separat als suhrkamp taschenbuch wissenschaft 141, dafür wurden Peirce’ Texte in einem Band zusammengefasst. Das hat den Nachteil, dass wir hier wirklich nur die Texte Peirce’ vor uns haben, ohne eine begleitende Einleitung, Das erschwert das Verständnis für Leute, die nicht in der Geschichte der Philosophie bewandert sind. Aber ja: Man soll nicht immer allen alles vorkauen.
Nach eigenen Aussagen kam Peirce über die Lektüre von Kants Kritik der reinen Vernunft zur Philosophie. Wie seine Texte hier beweisen, kannte er sich aber auch in der Scholastik hervorragend aus. Die Texte dieser Sammlung sind chronologisch geordnet, und so können wir sehr gut nachvollziehen, wie Peirce zum Konzept des Pragmatismus gefunden hat. Ursprünglich war sein Anliegen die Separierung der Logik von Bewusstseinsinhalten oder Intentionen. Dafür griff er auch gern auf die logischen Bemühungen der Scholastik zurück, die diese Vermischung von Logik und Bewusstseinsinhalten noch nicht kannte. Peirce’ ganz eigene Einsicht war dann, dass die Bedeutung eines logischen Satzes nicht in dessen Absicht liegen sollte, sondern in dessen Resultat. Dieses Resultat musste überprüfbar sein – womit Peirce gleich auch noch eine wissenschaftstheoretische Feststellung traf. Wo das nicht der Fall sein konnte, und damit die Wahrheit eines Satzes nicht überprüft werden konnte, sollte seine Richtigkeit zumindest wahrscheinlich sein – Peirce widmet ganze Absätze seiner Abhandlungen der Wahrscheinlichkeitstheorie.
Peirce selber fasste den Ausgangspunkt seines Pragmatische in einem Lexikon-Artikel wie folgt zusammen (und schlägt gleichzeitig eine Brücke zur Ethik):
Pragmatische Anthropologie ist nach Kant [Anmerkung der US-amerikanischen Herausgeber: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht] praktische Morallehre.
Dictionary of Philosophy and Psychology, New York: The Macmillan, 1902, Bd. 2, S. 321-322
Im selben Artikel, ein paar Zeilen weiter, formuliert er, angelehnt an Kant, seine Maxime pragmatischen Denkens:
Überlege, welche denkbaren Wirkungen, die denkbarer Weise auch praktische Auswirkungen haben könnten, der Gegenstand unseres Begriffes hat. Dann ist unser Begriff dieser Wirkungen das Ganze unseres Begriffes des Gegenstandes.
a.a.O.
Damit distanziert sich Peirce auch von jenen Spielarten des Pragmatismus, die in seinen Augen mehr oder weniger eine Spielart des Utilitarismus darstellten und die Bedeutung in der Nützlichkeit der Konsequenzen statuierte. Er dachte dabei vor allem an William James, F. C. S. Schiller und John Dewey.
Später, also ungefähr nach 1905 / 1907, vollführte Peirce, was man heute seine metaphysische Wendung nennt. Wir finden erste Ansätze schon in dieser Sammlung: Explizit von Hegels dialektischem Dreischritt in seiner Phänomenologie ausgehend, postulierte Peirce in Schriften der oben genannten Zeit drei erkenntnistheoretische Kategorien – die Einheit, die Zweiheit und die Dreiheit. Noch aber ist er so weit ‚geerdet‘, dass diese Kategorien mit praktischen Inhalten gefüttert sind: Die Einheit ist das grammatikalische Subjekt, der Nominativ; die Zweiheit sind Subjekt und Objekt, Nominativ und Akkusativ; die Dreiheit – da tut sich Peirce als Englischsprachiger etwas schwer in der Definition – sind Subjekt und zwei Objekte, im Deutschen also Nominativ, Akkusativ und Dativ. Später – aber diese Schriften sind in der vorliegenden Auswahl nicht mehr vertreten – würde Peirce leider gänzlich in die Metaphysik abdriften.
Den Schluss der Sammlung bilden ein paar Briefe Peirce’ an seine weiter oben genannten Kollegen. Es handelt sich zwar um Briefe, die Fragen der pragmatischen Philosophie erörtern, aber meiner Meinung nach hätte man auf sie verzichten können oder die Antworten der jeweiligen Adressaten hinzufügen müssen.
Bis heute ist Peirce in verschiedenen Nummern der Reihe suhrkamp taschenbuch wissenschaft greifbar; ob und welche Überschneidungen zu meiner Ausgabe existieren, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich würde aber seine erhältlichen semiotischen Schriften unbesehen auch heute noch allen philosophisch, linguistisch oder zeichentheoretisch Interessierten empfehlen.