Italo Calvino: Invisible Cities [OT: Le città invisibili / dt.: Die unsichtbaren Städte]

Links der rot-braune Rand des Lederrückens. Dann, auf hellem Hintergrund, verschiedene Gebäude einer fiktiven mittelalterlichen, italienischen Stadt. Ausschnitt aus dem Coverbild von Dave McCean.

Einen hundertjährigen Geburtstag kann man wohl auch zwei Mal feiern. Ich habe ja gerade erst aus Anlass seines 100. Geburtstags Italo Calvinos Il barone rampante vorgestellt. Das Buch hat mir so gut gefallen, dass ich, als ich sah, dass auch bei der Folio Society ein Buch von Calvino erschienen ist (natürlich in einer englischen Übersetzung), sofort zugegriffen habe. Und so kommt es, dass nur rund zwei Monate nach einem Baron auf den Bäumen sogar Unsichtbare Städte im Blog auftauchen. Oder eben nicht.

Dieser Text spielt ein ganz anderes Spiel als der Baron auf den Bäumen. Ein so anderes, dass schon eine literarische Klassifizierung schwierig wird. Auf den ersten Blick finden wir eine klassische Einteilung in Rahmen- und Binnenerzählung. Doch wirklich erzählt wird weder draußen noch drinnen etwas. Als Roman, wie ihn die erste deutsche Übersetzung bezeichnete, können wir den Text also nicht guten Gewissens durchlassen, eben so wenig als Kurzgeschichten-Sammlung.

Nur auf den ersten Blick scheint die literarische Klassifizierung klar. Wir finden einen Rahmen, eine Art Erzählsituation: Marco Polo, der italienische Reisende, sitzt bei Kublai Khan, dem Herrscher der Mongolen und Kaiser von China, seinem Auftraggeber (nicht nur in der Fiktion, Polo arbeitete wohl wirklich eine Zeitlang für den chinesischen Kaiser). Er rapportiert von seinen Reisen im Kaiserreich. Er berichtet von den Städten, die er besucht hat. Doch die Fiktion ist selber Fiktion. Es tragen diese Städte keinen reellen Namen. Bzw. sie tun es irgendwie schon, aber es sind Namen von historischen oder mythologischen Frauengestalten. Auch hat jede Stadt eine Spezialität, die weit jenseits des Realen liegt.

Um den klassifikatorischen Teil zu beenden: Ich tendiere dazu, den Text als Langgedicht aufzufassen – ein Prosagedicht zwar, aber wir finden nicht nur eine Einteilung in Strophen, wir finden auch eine (sogar mathematisch aufgebaute) strikte Struktur der Strophen. Wikipedia hat nicht immer Unrecht, und es ist am einfachsten, wenn ich hier den entsprechenden Abschnitt zitiere:

Die Anordnung der 55 Städtebilder folgt einem ausgefeilten Muster: In neun Kapiteln, jeweils ein- und ausgeleitet mit einem Stück der „Rahmenerzählung“, werden elf Reihen von je fünf Städten vorgestellt, jeweils durchnummeriert nach dem Muster „Die Städte und … 1“ bis „Die Städte und … 5“ und zyklisch miteinander verschränkt, so dass sich eine Struktur ergibt, die von weitem an das klassische Strophenschema der italienischen Dichtung erinnert: das der gereimten Terzine in Dantes Göttlicher Komödie, auf welche auch – sicher nicht zufällig – der Umstand verweist, dass es gerade neun Kapitel sind, in die Calvino den Zyklus eingeteilt hat, entsprechend den neun Kreisen der Hölle bei Dante, und dass er am Ende des letzten Kapitels explizit von der Hölle spricht.

Quelle

(Wen noch mehr Details zur mathematischen Struktur interessieren, kann das im englischsprachigen Wikipedia-Artikel zu den Unsichtbaren Städten nachlesen.)

Doch die mathematische Struktur bliebe Spielerei und würde recht bald langweilig, wenn Calvino nicht noch mehr in den Text gepackt hätte. In den einzelnen ‚Strophen‘ sind erkenntnistheoretische und / oder semiotische Fragen versteckt. Nicht nur nämlich, dass viele ‚Schilderungen‘ dieser Städte verblüffend an die poetischen Traumreisen erinnern, die wir bei Lovecraft finden oder bei Dunsany. Sie stellen, in oft recht verzwickten Bildern, auch philosophische Fragen. Zum Beispiel sehen wir Marco Polo, der die Sprache Kublai Khans nicht spricht, erzählen mit Gesten und Lauten, ja mit Hilfe von diversen Objekten, die im Zimmer stehen. Jonathan Swift? Ganz sicher. Oder es kommt der Moment, in dem sich Polo derart in seiner ‚Erzählung‘ ins Irreale oder Surreale versteigt, dass die beiden nur noch miteinander schweigen können. Ludwig Wittgenstein? Ganz sicher. Oder Marco Polo breitet eine Landkarte aus, auf der die ganze Stadt, von der er gerade ‚berichtet‘ abgebildet ist, dreidimensional, mit allen Häusern und allen Details. Ein Hieb in Richtung der Aussage Alfred Korzybskis „Die Landkarte ist nicht die Landschaft“? Ganz sicher.

Aussagen wie: „Wir schildern nie die Stadt, so wie sie ist. Wir erzählen von der Stadt, wie sie in unserer Erinnerung bleibt.“ oder „Warum ich nie von Venedig erzähle? Ich habe immer nur von Venedig erzählt.“ sind nur die ganz offensichtlichen Eye-Catcher. Wir haben hier ein ganzes Buch, das sich in einem mathematisch-phantastisch-erkenntnistheoretischen Setting bewegt. Aber Vorsicht: Calvino ist Dichter, nicht Philosoph. Er stellt uns Fragen, liefert aber keine Antworten. Nur Poesie.

In diesem Sinne: äußerst lesenswert.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert