Am 15. Oktober 2023 jährte sich der Geburtstag von Italo Calvono zum 100. Mal. Dass ich genau an diesem Tag mit der Lektüre des vorliegenden Buchs begonnen habe, war reiner Zufall. Kein Zufall hingegen wird es wohl gewesen sein, dass die Büchergilde in ihrem Herbstprogramm diesen Roman neu aufgeführt hatte. Es handelt sich um eine eigens für die Büchergilde erstellte Ausgabe des 1957 erschienenen Romans, versehen mir vielen farbigen Illustrationen von Gianluca Scigliano, einem jungen deutsch-italienischen Graphiker. Diese Bilder sind wunderschön, allerdings erinnern die Gestalten ein bisschen zu sehr an die zu den Gruselgeschichten der Bibliothek von Babel. Und gruselig ist dieser Roman hier keineswegs. Er ist im Gegenteil sogar urgemütlich. Im Übrigen haben wir die Übersetzung von Oswalt von Nostiz vor uns, die dieser 1960 für die erste (und m.W. einzige) deutsche Version im Fischer-Verlag erstellte. Daran gibt es meines Erachtens auch nichts auszusetzen; die deutschen Sätze sind flüssig, perlend – so, wie ich mir nach allen Beschreibungen aus das Original vorstelle.
Die Geschichte handelt vom Baron Cosimo Piovasco di Rondò, der als Zwölfjähriger Knall auf Fall vom Dinner der Familie aufsteht, weil ihn der Vater zwingen will, zur Strafe eine der seltsamen kulinarischen Kreationen seiner Schwester zu essen. Er schwingt sich zum Fenster hinaus auf den dortigen Baum und verkündet, er werde nie mehr festen Boden betreten. Zuerst glaubt die Familie noch, nach ein paar Stunden, nach ein paar Tagen, nach ein paar Wochen werde er kleinmütig zurückkehren, doch der junge Baron bleibt auf den Bäumen und richtet sich dort nach und nach sein Leben ein. Eben dieses Leben wird uns im Roman in der Ich-Form von seinem jüngeren Bruder erzählt, der acht Jahre alt war, als Baron Cosimo die Familie verließ. Der große Teil der Handlung spielt in den Wäldern rund um Genua, die dicht genug sind, diesem Tarzan-Vorläufer zu erlauben, von Baum zu Baum zu klettern, um die Gegend zu erkunden. Es ist die Blütezeit der französischen Aufklärung, als Cosimo den Baum zum ersten Mal erklettert, er wird noch die Französische Revolution erleben (und, in kleinem Maßstab, trotz seiner adligen Herkunft zu einem Anführer der lokalen Revolution in der Stadt in der Nähe seines Heimatschlosses) und den Einmarsch der Truppen Napoléons. Alt und krank geworden kapert er von seinem Baum aus das Ankerseil einer vorbei fliegenden Montgolfière und verschwindet in der Luft. Man wird ihn nie mehr sehen, denn, als die Mongolfière landet, hängt am Seil nur noch der Anker. Sein nüchterner jüngerer Bruder und Berichterstatter vermutet, er sei ins Meer gefallen bzw. habe sich ins Meer fallen lassen, um auch als Toter den Erdboden nicht mehr zu berühren.
Dazwischen liegen noch viele weitere Abenteuer und auch eine große Liebe, über die ich hier nicht mehr verraten will. Der Roman ist teils Parodie auf den ‚klassischen‘ Entwicklungsroman oder gar Künstlerroman mit dem – vor allem für letzteren – so typischen Erzähler, der dem Protagonisten zwar nahe steht, ihn aber doch nicht zu begreifen vermag. Man erinnere sich an Serenus Zeitbloms Verhältnis zu Adrian Leverkühn in Thomas Manns (zehn Jahre älterem) Roman Doktor Faustus. Nur ist unser Baron Cosimo hier zwar ein großer Sonderling und in vielen Dingen sehr geschickt, die sein jüngerer Bruder nicht versteht, aber ein Künstler ist er allenfalls, wenn man den Lebenskünstler darunter mit versteht. Teils Parodie, habe ich gesagt, teils aber auch reine Münchhauseniade – ein Eindruck, der verstärkt wird durch den Umstand, dass der erzählende jüngere Bruder auch schon mal dem älteren die Rede überlässt, wenn es um Dinge geht, bei denen er auch nicht von weitem Zeuge war und von denen Cosimo auch verschiedene Versionen kennt, je nachdem, wie oft der die Geschichte schon wiederholt hat und wem er sie erzählt. Wer will, kann hierin auch durchaus eine poetologische Bemerkung Calvinos sehen. Aber solche literaturtheoretischen und -wissenschaftlichen Interpretationen sind zwar möglich, ebenfalls philosophische (Baron Cosimo liest schon sehr früh sehr viel, geht ziemlich rasch von der Lektüre eines Richardson oder Fielding über zu Plutarch, Ovid oder Lukrez und bestellt sich seltene Bücher beim Buchhändler der nächsten grossen Stadt, er steht auch in Briefkontakt mit Diderot, Rousseau oder Voltaire, um nur die bekanntesten zu nennen) oder politische. Aber der Roman ist auch ein Genuss, ohne dass man diesen Anspielungen nachzugehen hat.
Jedenfalls möchte ich diesem Roman allen hier Mitlesenden ans Herz legen.
1 Reply to “Italo Calvino: Der Baron auf den Bäumen [Il barone rampante]”