H. G. Wells: Die ersten Menschen auf dem Mond [The First Men in the Moon]

Vor uns, schwarz auf blau, eine sehr realistisch gezeichnete Mondlandschaft. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Dieser Roman ist der letzte in der Reihe von eigentlichen Science Fiction-Geschichten, die H. G. Wells an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verfasst hat. Seine Vorgänger waren The Time Machine (1895), The Island of Doctor Moreau (1896), The Invisible Man (1897) und The War of the Worlds (1898). Ob When the Sleeper wakes von 1899 auch dazu gerechnet wird, ist eine kleine Streitfrage, denn es handelt sich dabei eher um eine soziale Dystopie als um eigentliche Science Fiction. (Alle diese Romane, nebenbei, wurden in diesem Blog schon vorgestellt.) 1900 erschien ein Roman außerhalb dieses Genres, bevor er mit dem vorliegenden Werk 1901 noch einmal dahin zurückkehrte.

Während vor allem in England auch seine späteren realistischen Werke durchaus populär sind, hatte es im deutschen Sprachraum schon dieser Roman hier schwer. Zwar existiert eine deutsche Übersetzung (von Werner von Grünau – vor mir liegt ein Rowohlt Taschenbuch aus dem Jahr 1968, N° 1026; sie ist auch in anderen Verlagen erschienen), aber an die oben erwähnten Vorgänger kommt er hierzulande nicht heran. Seltsam genug, bei Lichte betrachtet, weil er – rein literarisch gesehen – der beste der Gruppe ist.

In anderen Ländern (und zu anderen Zeiten) sieht das durchaus anders aus. Schon beim Erscheinen des Romans hat sich Jules Verne sehr geärgert darüber, dass Wells auf jede technische Diskussion des Flugs zum Mond verzichtet hat, indem er dessen Möglichkeit der Entdeckung (oder Erfindung? – Wells bleibt hier unklar) eines Metalls (oder Elements? – auch hier bleibt Wells vage) durch einen verrückten Erfinder namens Cavor zuschreibt. Der Stoff wird dementsprechend Cavorit getauft. Er hat die Eigenschaft, die Schwerkraft zu blockieren – auch hier bleibt Wells vage darin, wie man sich das genau vorstellen muss, insbesondere die Form der Jalousien, die die beiden Helden an der Kugel anbringen, in der sie zum Mond reisen. Verne ließ bei seiner Kritik großzügig außer Acht, dass seine eigenen Diskussionen und Berechnungen zum einen langatmig sind und zum anderen sich wahrscheinlich schon zu seiner Zeit, ganz sicher aber heute, als voller Fehler entpuppen – seine Kugel also genau so wenig funktionieren konnte wie die von Wells. Der literarische bedeutend begabtere Wells siegt hier nach Punkten, wenn auch nicht nach Wahrscheinlichkeit – die ist bei beiden gleich gering.

Andere Autoren gingen mit Wells’ Roman noch einmal anders um. Da ist C. S. Lewis, der sich nicht nur für sein Malekandra (d. i. der Planet Mars des Romans Out of the Silent Planet) von Wells’ Beschreibung der Mondoberfläche inspirieren ließ, sondern auch eine ähnliche Reisegruppe zusammen stellte wie sein Vorgänger: einen verrückten Wissenschaftler und einen geldgierigen Kapitalisten (plus allerdings ein weiteres unschuldiges Opfer). Diesen ‚strukturellen‘ Ähnlichkeiten stellte der gläubige Christ Lewis dann allerdings eine der Wells’schen Weltanschauung völlig konträre Botschaft gegenüber.

Cavorit oder Cavorit-ähnliche Stoffe finden wir vor allem in der Pulp- und Comic-Literatur zuhauf. Eine besser versteckte Hommage an Wells’ Roman hat Liu Cixin (im Chinesischen steht der Nachname zuerst!) in ersten Teil seiner Trisolaris-Trilogie, auf deutsch Die drei Sonnen, im Original 三体, angebracht. Bei ihm heißt einer der Wissenschaftler, der den Weltraum nach Signalen fremder Zivilisationen abhorcht, Ye Wenjie und erinnert damit an den in Wells‘ Roman zum Schluss eingeführten Astronomen Mr. Julius Wendigee, der die Funksprüche Cavors vom Mond abhört.

Wie schon gesagt: Literarisch, als Abenteuerroman, funktioniert Wells’ Reise auf den Mond bedeutend besser als die Jules Vernes um denselben. ‚Auf‘, wie im Deutschen, oder ‚in‘ den Mond, wie im Englischen, spielt dabei keine Rolle: Cavor und der ihn begleitende Ich-Erzähler landen erst auf dem Mond, bevor sie dann die Eingänge der Seleniten entdecken, die in den Mond führen. Die Seleniten entpuppen sich als eine äußerlich den Ameisen ähnlich sehende Spezies, die unterirdisch (eigentlich ja: untermondisch) leben, in riesigen, durch blau schimmernde Bäche erleuchteten Höhlensystemen. Auch das erinnert an Ameisen, mit denen die Seleniten ebenso ein Exoskelett gemeinsam haben. Wie die Ameisen sind alle Individuen im Grunde genommen keine, sondern für irgendeine Beschäftigung spezialisierte Gruppen-Wesen, nur, dass viel mehr Spezialisierungen existieren als bei den Ameisen. Aber auch bei den Seleniten zeigt sich die Spezialisierung jeweils in einer spezifischen Ausprägung des Äußeren.

Als reiner Abenteuerroman also ganz interessant, haben wir festgestellt. Aber Wells baut noch mehr ein. Den verrückten Wissenschaftler kennen wir zwar schon aus seinen früheren Romanen. Cavor ist hier nicht die Sorte, die die Weltherrschaft an sich reißen will, wie Dr. Moreau oder der Unsichtbare (und, im Grunde genommen auch die Marsmenschen im Krieg der Welten), sondern ein genialer, aber im weltlichen Sinn nicht brauchbarer Tolpatsch, der primär sich selber in Gefahr bringt; insofern kehrt Wells hier wieder zur Zeitmaschine zurück. Der Ich-Erzähler hier aber ist ein wenig anders geraten als seine Vorgänger. Er ist mehr als nur der reine Beobachter der Zeitmaschine oder des Kriegs der Welten, aber auch nicht der den Bösen besiegende Held aus Dr. Moreau oder dem Unsichtbaren. Er gerät zusammen mit Cavor in Gefangenschaft der Seleniten, bringt aber sich und seinen Gefährten durch sein aufbrausendes Wesen nur noch mehr in Gefahr. Zum Schluss kann er sich alleine retten und muss Cavor in Gefangenschaft zurück lassen. Mit der Kugel wieder auf der Erde angekommen, ist er dann blöd genug, diese einfach unbeaufsichtigt am Strand liegen zu lassen, worauf sie ihm von einem kleinen frechen Bengel einfach entführt wird. Er muss Cavor seinem Schicksal überlassen; ich bin aber nicht sicher, ob er das wirklich bedauert. Zu Beginn des Romans erfahren wir, dass er soeben Bankrott gemacht hat und sich nun aufs Land zurückgezogen hat, weil einerseits dort das Leben billiger ist, ihn seine Gläubiger auch dort nicht suchen und vor allem, weil er dort die Ruhe hat, die er braucht (sagt er), um an seinem Drama zu schreiben. Er ist nämlich nun Schriftsteller. Für ihn war die Reise zum Mond auch insofern profitabel, als er seine ihm von den Seleniten angelegten Fesseln veräußern kann – die sind nämlich aus purem Gold. Wir haben eine durchaus ‚windige‘ Gestalt vor uns, seine stetigen Streitereien mit Cavor in der Kapsel und auf dem Mond zeigen ihn nicht im besten Licht – auch wenn er nachher auf der Erde Cavor zumindest eine Mitschuld in die Schuhe schieben will. Diese Art Figur hebt den letzten der Science Fiction-Romane weit hinaus über seine Vorgänger – seien es die von Wells selber oder die von Verne. Ich bin versucht zu sagen, dass wir hier Ansätze des späteren Pessimismus finden, den Wells gegenüber der Menschheit an den Tag legte.

Dass bei Wells wie bei Verne die Helden ohne großes Überlegen in ihre Abenteuer steigen, sei noch am Rande erwähnt. Wells’ Ich-Erzähler hier nimmt nicht einmal Lesestoff für die Reise mit, während Cavor immerhin einen Band mit Shakespeares Werken dabei hat. Auch, was sie auf dem Mond genau wollen, wissen im Grunde genommen weder die Helden von Jules Verne noch die von H. G. Wells …

1 Reply to “H. G. Wells: Die ersten Menschen auf dem Mond [The First Men in the Moon]”

  1. Auch Ihre Besprechungen von Werken, die ich mir weiterhin nicht antun will und werde, sind nützlich, zur Bestätigung. Mir liegt eben das ganze Genre nicht, schon in seinen Pionieren. Auch von Jules Vernes habe ich nur Andersartiges gelesen, „Le phare du bout du monde“, „Deux ans de vacances“. Letzteres natürlich zunächst wegen der Fernsehserie – lange her, dass es im Fernsehen noch so was Nettes gab.

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