Johann Gottfried Herder: Briefe. Zweiter Band. Mai 1771-April 1773

Auf zwei Zeilen, etwas rechts von der Mitte, dunkelbraun auf beige, stehen die Worte: "JOHANN GOTTFRIED // HERDER". - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Bückeburg. Wer hat heute, außer den rund zwanzigtausend Menschen, die dort leben, vielleicht noch einmal der gleichen Anzahl Leute in der Umgebung und noch einmal der gleichen Anzahl Menschen, die irgendwann aus welchem Grund auch immer von dort weggezogen sind und / oder noch Verwandte und Bekannte dort haben, sowie – last but not least – einer Handvoll Juristen: Wer also hat schon von diesem Städtchen im heutigen Niedersachsen gehört? Und von all denen, die dort wohnen oder sonst woher den Namen Bückeburgs kennen: Wer hat je von der Grafschaft Schaumburg-Lippe gehört? Dass ihre Namen überhaupt außerhalb jenes gerade skizzierten Kreises noch genannt werden, verdanken Städtchen und Grafschaft jenem Mann, der dort im 18. Jahrhundert rund fünf Jahre seines Lebens (1771-1776) als Oberprediger und Konsistorialrat tätig war: unserem Johann Gottfried Herder hier. (Was den Kreis natürlich nur unwesentlich erweitert. Selbst unter den Dozierenden und Studierenden der deutschen Literaturgeschichte nimmt Herder spätestestens seit dem Ende der DDR nicht erste Priorität ein.)

Dem sei, wie dem ist. Als reisender Fürstenerzieher wurde Herder nicht glücklich. Er war weder zum Fürstenerzieher noch zum Reisen so ganz gemacht. Also ergriff er die Gelegenheit beim Schopf, als ihm der oben genannte Job angeboten wurde. Doch schon bald, schon in den vorliegenden Briefen von 1771 bis 1773, wurde klar: Er war auch hier nicht glücklich. Sein Landesherr, Graf Wilhelm Friedrich Ernst zu Schaumburg-Lippe, war zwar ein bekannter Militärtheoretiker der Zeit, aber als solcher (und als absolutistischer Herrscher seines Duodez-Fürstentums) von seinen Interessen und seinem Denken her nicht jemand, dem Herder wirklich gern unterstellt sein konnte. Das Verhältnis zwischen den beiden war von Beginn weg kühl. Dass sich die kränkliche Gattin des Grafen Wilhelm mit Herder befreundete, verbesserte das Verhältnis zwischen den beiden Männern nun auch nicht gerade.

Wenn dann noch praktisch mit Herders Dienstantritt in Bückeburg, im fernen Berlin seine Schrift Abhandlung über den Ursprung der Sprache den ersten Preis einer Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaften gewonnen hatte und nun publiziert wurde, war dies dem Autor nachgerade peinlich. Er spürte wohl, dass er sich mit einer aufklärerisch angehauchten Schrift wie dieser beim Grafen gleich von Anfang an unbeliebt machen musste.

Hinzu kam, dass Bückeburg damals von der intellektuellen Welt praktisch abgeschnitten war. Buchhandlungen, die die neuesten literarischen und / oder philosophischen Werke führten, gab es keine. Herder musste sich seinen Lesestoff über seine Freunde in Darmstadt oder Riga organisieren. Zwar gehörte zu seiner Wohnung als Oberprediger ein kleines Gärtchen, das er pflegte, aber ansonsten war da im Grunde genommen nichts, das seiner Aufmerksamkeit bedurfte.

Ein kurzer Aufenthalt in Göttingen frischte seine Bekanntschaft mit den dortigen Deutschland-, ja Europa-weit bekannten Wissenschaftlern wieder auf. Man spürt in seinen Briefen an den den Sprach- und Altertumswissenschaftler Christian Gottlob Heyne, wie tief und gerne er beim Kontakt mit der aufgeklärten Welt von Göttingen wenigstens für kurze Zeit durchatmete, so, wenn er sich immer mit echtem Interesse auch noch nach Kästner und Lichtenberg erkundigte.

In seinen Briefen an Heyne zeigte sich Herders echtes Interesse an der Sprachwissenschaft (wie man sie damals so betrieb). In den Briefen an Hamann hingegen, mit dem er in den 1760ern noch ästhetische und sprachphilosophische Fragen diskutiert hatte, tauchten plötzlich theologische Diskussionen auf; auch begann Herder – aber nur in den Briefen an Hamann! – einen ähnlich hermetischen Stil zu verwenden wie sein Königsberger Freund.

Daneben taucht in Herders Briefen an Caroline nun auch Goethe auf. Zunächst wird er noch als lieber Junge beschrieben – was auch darauf hinweist, dass Herder den selbstbewussten jungen Mann völlig falsch einschätzte. Goethe hat sich nie als der Jünger Herders gefühlt, als den ihn dieser zumindest zu Anfang der 1770er betrachtete. Merck hingegen hat sich aus einem uns heute nicht mehr bekannten Grund die Zuneigung Carolines verscherzt, und Herder findet in der Folge im Frühjahr 1773 dessen Briefe plötzlich kalt. Die Freundschaft war zu Ende; bis heute wissen wir nicht, was Caroline genau an ihm auszusetzen hatte. Immerhin war er zu einem großen Teil verantwortlich dafür, dass sich Caroline und Gottfried damals in Darmstadt näher kennen und lieben gelernt hatten.

Im Übrigen ging es für Herder mit seiner Caroline auch nicht so richtig vorwärts. Die beiden schrieben sich zwar fleißig Briefe. Doch waren beide von Natur aus misstrauisch. Jede kleine Lücke im Intervall des Briefwechsels sorgte jeweils für Ängste und Verdächtigungen – Herders Briefe präsentieren uns eine riesige emotionale Achterbahn. Er geriet jedes Mal in helle Aufregung, wenn nicht alle 14 Tage ein Brief seiner Caroline eintraf und erkundigte sich ängstlich nach ihr – in Briefen, die sich dann unter Umständen mit dem nächsten Brief Carolines kreuzten. Zwar rutschte Herder das eine oder andere Mal gegenüber Caroline ins vertraute ‚Du‘, um dann im nächsten Satz wieder ein ‚Sie‘ zu verwenden, aber wenn es nach dem Mann gegangen wäre, würden sich die beiden heute noch seufzende Briefe schreiben. Doch Caroline ergriff – wie später noch oft in Herders Leben – die Initiative. Vielleicht auf Anregung Mercks (und vielleicht war dies der Grund für den Bruch mit ihm: es mag sein, dass sie nicht daran erinnert werden wollte und Merck war nicht immer diplomatisch gegenüber Freunden und Freundinnen, er mag sie damit aufgezogen haben – etwas, das sie so wenig ertrug wie ihr Gottfried) erzählte sie ihren Eltern so ganz nebenbei, dass sie im Fall mit diesem Herder verlobt wäre. Nun konnte auch der Oberprediger nicht mehr zurück. Er bat bei seinem Landesherrn um die Heiratserlaubnis. Band 2 des vorliegenden Briefwechsels endet dann kurz vor dem Hochzeitstermin.


Johann Gottfried Herder: Briefe. Zweiter Band. Mai 1771-April 1773. 5300 Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger DDR, ursprünglich 1977, vor mir liegt der fotomechanische Nachdruck von 1984.

1 Reply to “Johann Gottfried Herder: Briefe. Zweiter Band. Mai 1771-April 1773”

  1. Ich war in der Gegend auf Klassenfahrt, und auf einem Ausflug haben wir das Bückeburger Schloss besichtigt, wo auch ein Porträtgemälde eben des Superintendenten Herder gezeigt wurde. Damals lebte noch der vorige Fürst, allerdings haben wir weder den noch seinen Erbprinzen gesehen. Über diesen ist mir ein späteres Fernseh-Feature erinnerlich, in dem verraten wurde, dass er sich gerade zu der Zeit, 70er Jahre, etwas revoluzzerisch gegeben hatte. Mittelalterlich geisterte er dann wohl in der Klatschpresse herum, mit Scheidung und Neuverheiratung mit einer bürgerlichen Dame und so. Von daher kann vielleicht Schaumburg-Lippe doch einen gewissen Anspruch auf überregionale Bekanntheit erheben.

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