Jean Civilus, der sich als Künstler Jean D’Amérique nennt, kam 1994 in Côte-de-Fer, Haiti, zur Welt. Soleil à coudre erschien 2021 auf Französisch. Es handelt sich um seinen ersten Roman; er war aber bereits als Lyriker und Rapper bekannt. Wörtlich übersetzt bedeutet der Titel Soleil à coudre „Sonne zum Nähen“, was impliziert, dass die Sonne tatsächlich zerrissen ist und repariert werden sollte, dies offenbar mit ganz einfacher Technik. Tatsächlich ist die Sonne eines der immer wieder auftauchenden Symbole im Roman – keineswegs eine nette, wärmende Sonne, wie wir in Mitteleuropa sie aktuell so sehr vermissen. Die Sonne des Romans, die haitianische Sonne, ist brutal und schlägt mit hammerharten Schlägen auf die Menschen ein.
Damit ist die eine Tonart des Romans bereits gegeben: das harte Leben der Bevölkerung im Haiti der Gegenwart. Es ist ein Leben gefüllt mit Gewalt, die sowohl aktiv ausgeübt wie passiv erfahren wird – es werden viele Leute erschossen in diesem Roman; sexuelle Gewalt an Frauen (und an Minderjährigen!) ist an der Tagesordnung. In dieser Welt lebt eine Zwölfjährige mit dem Übernamen Tête Fêlée, was ungefähr mit „Gespaltener Kopf“ übersetzt werden kann. Er ist gespalten worden durch die Gewalt der Sonne (die, vergessen wir das nicht, im Französischen männlichen Geschlechts ist). Ihr Kopf ist gespalten, das heißt auch, dass sie ein Wirrkopf ist – oder zumindest auf die anderen so wirkt. Denn, wenn wir sie erzählen hören (sie ist die Ich-Erzählerin des Romans), macht sie keineswegs einen verwirrten Eindruck. Sie sieht oder beschreibt die Realität um sie herum – einfach ein bisschen anders als wir es erwarten würden.
Tête Fêlée lebt als Tochter einer Prostituierten mit ihrer Mutter zusammen – und mit einem Mann, den sie Papa nennt, obwohl er nicht ihr Vater ist. Aber er ist die rechte Hand des Bandenchefs, der das Quartier regiert. Der Roman spielt in der Gegenwart; die beiden Duvalier, Papa Doc und Baby Doc, die von 1957 bis 1986 mit brutaler Gewalt regiert hatten, sind nur noch dumpfe Erinnerungen der Alten. Längst sind die Politiker zu einer korrupten und nicht regierungsfähigen Truppe verkommen und die eigentliche Gewalt in den Städten und auf den Dörfern liegt in der Hand rivalisierender Gangstergruppen. Als eine Art Adoptivtochter des obersten Auftragskillers des lokalen Bandenchefs genießt Tête Fêlée gewisse Privilegien, zum Beispiel die Möglichkeit, eine ansonsten nur Reichen offen stehende Schule zu besuchen. Sie verliebt sich in eine Mitschülerin, was deren Vater – Lehrer an eben dieser Schule – nicht gern sieht, weshalb er sie eines Tages auf dem Schulklo überfällt und zu Oralsex zwingt. Das hätte er besser nicht gemacht. Denn Tête Fêlée hat auch schon mal für ihren Papa nachts Geiseln bewacht, für die Lösegeld verlangt wurde. Sie schnappt sich also Papas Pistole und erschießt ihren Lehrer bei günstiger Gelegenheit. Damit verliert sie aber auch ihr Mondmädchen, wie sie ihre Angebetete nennt (bezeichnend übrigens, dass der weiche – und im Französischen weibliche – Mond zur Definition der Geliebten verwendet wird und nicht die harte und brutale Sonne, hier erkennen wir den Lyriker). Denn das Mondmädchen wird zur vom Vater getrennt lebenden Mutter nach New York verfrachtet. Damit wird diese Stadt zum Sinnbild der Sehnsucht der Ich-Erzählerin – so, wie sie es in der Realität für viele Leute auf Haiti geworden ist.
Es geschieht noch viel mehr in diesem Roman; die Spirale der Gewalt dreht zum Schluss immer schneller. Aber ich will noch ein Wort zu dessen Sprache sagen. Wie schon das Wort Mondmädchen andeutet, verwendet Tête Fêlée sehr viele Bilder in ihrer Erzählung. Tatsächlich ist es die Sprache des Lyrikers, die ihr Jean D’Amérique in den Mund legt. Oder auch des Rappers – nicht umsonst wohl ist die einzige Musik, die Tête Fêlée hört, (US-amerikanischer) Rap. Das wirkt auf den ersten Blick einfach nur seltsam; bestätigt auf den zweiten den Wirrkopf; entpuppt sich auf den dritten als der Panzer, den das Mädchen umlegen muss, um einigermaßen heil durch ihre Welt zu kommen; bringt auf den vierten Blick auch eine intensive Spannung in den Roman, weil wir als Lesende nicht unbedingt lyrische Sprache erwarten, wenn es darum geht, eine brutale und niederschmetternde Situation zu schildern, aus der es offenbar keinen Ausweg gibt, wie es auch der Schluss dann suggeriert.
In seiner Intensität ist der Roman selber eine Sonne, die mit hammerharten Schlägen nicht nur auf ihr Personal einschlägt sondern auch auf uns Lesende. Wir staunen ob der lyrischen Sprache, um zugleich vom geschilderten Inhalt einen Schlag in die Magengrube zu erhalten. Einzig der Schluss fühlt sich falsch an, trotzdem, aber auch weil er im Grunde genommen logisch ist. Er könnte am Ende eines Rap-Songs stehen, eines Gedichts allenfalls oder einer Kurzgeschichte von Hemingway. Für einen Roman ist er dann doch allzu vorhersehbar. (Kommt aber natürlich genau deshalb unerwartet – vielleicht spielt Jean D’Amérique doch mehr mit uns, als ich wahrhaben möchte.)
Es ist wie in einem Boxkampf mit Muhammad Ali in seinen besten Zeiten. Die grazilen und eleganten Bewegungen des Gegenüber sollten nicht darüber hinweg täuschen, dass er hammerharte Schläge austeilen kann. Die Warnung des Verlags auf dem hinteren Buchdeckel – Empfohlen ab 16 Jahren. Enthält Schilderungen von sexuellem Missbrauch und Gewalt – weist ebenfalls darauf hin. Wer sich so etwas zutraut, soll in den Ring steigen. Es wartet ein intensives Lese-Erlebnis.
Jean D’Amérique: Zerrissene Sonne. Roman. Aus dem Französischen übertragen und mit einem Vorwort versehen von Rike Bolte. Trier: Litradukt, 2024.
Wir danken dem Verlag für das Rezensionsexemplar.
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