Joachim Maass: Der Schnee von Nebraska

Darstellung einer abstrakten Struktur, in hellen Farben gehalten (blau, grün, grau, weiß) und deshalb an Gestein oder Eis erinnernd. – Ausschnitt aus dem Buchcover.

Es mag auf Exilliteratur spezialisierte Personen geben, die alle Namen kennen derer, die man dazu rechnet. Aber selbst wenn man, wie das im deutschen Sprachraum oft geschieht, den Begriff einengt auf die deutsch schreibenden Autorinnen und Autoren, die damals vor dem Nazi-Regime zuerst aus Deutschland, dann auch aus Österreich, der Tschechoslowakei etc., geflohen sind – sei es nach Frankreich, den USA oder Brasilien – selbst dann wird es Spezialist:innen vorbehalten sein, die Namen und Schicksale aller zu kennen. Viele waren schon zu Lebzeiten weniger bekannt als die Manns oder Zweig, und das Exil hat ihre Karrieren oft mehr oder weniger zerstört.

So ein Fall ist offenbar auch Joachim Maass. Ich bin kein Spezialist für Exilliteratur und muss gestehen, vor der Lektüre des vorliegenden schmalen Büchleins den Namen dieses Autors nie gehört zu haben. Das will nichts heißen; ich musste feststellen, dass es seit etwas mehr als zwanzig Jahren einen Eintrag zu ihm bei Wikipedia gibt – auf den ich auch für weitere biografische Informationen verweise. Nur so viel: Der 1901 in Hamburg Geborene war zumindest kein ganz Unbekannter, verschiedene seiner Bücher hatten Erfolg und er konnte von seinen Tantiemen leben. Er war weder Jude noch politisch sehr engagiert, aber es war für ihn eine Frage des Anstands, 1939 seinen jüdischen Freunden ins Exil in die USA zu folgen.

Irgendwo habe ich gelesen, Thomas Mann hätte Maass’ Sprache als sehr elegant gelobt. Das ist ein zweischneidiges Schwert – einerseits im Prinzip, denn Mann lobte so manchen Autor, so manche Autorin mit ein paar kurzen Sätzen. Andererseits kann das auch implizieren, dass Maass zwar die Sprache beherrscht aber nicht seinen Plot.

Nehmen wir es vorweg: Das ist nicht der Fall. Sicher: Maass’ Sprache ist elegant und schön zu lesen. Aber auch seinen Plot hat er – zumindest in der vorliegenden Kurzgeschichte Der Schnee von Nebraska – durchaus im Griff. Das ist umso wichtiger als er, wie offenbar so oft in seinen Werken, einen kriminalistischen Plot aufgegriffen hat. Die Kurzgeschichte erschien 1938 zum ersten Mal. Sie war das Resultat einer früheren Reise in die USA, bei der Maass auch die Möglichkeiten eines Exils für sich und seine Freunde auslotete.

In der Form von Rahmenerzählung und Binnenerzählung wird die Geschichte eines brutalen Mordes an einem kleinen Jungen erzählt. Die Rahmenerzählung spielt in einem Express-Zug, der quer durch die USA von Kalifornien nach New York fährt. Draußen, wir fahren gerade durch Nebraska, tobt ein Schneesturm, was einen Reisenden, den Doktor, an eine Geschichte erinnert, die einem befreundeten Arzt in einem kleinen Kaff in Nebraska geschehen ist und die er nun seinem Mitreisenden erzählt. Und während die Rahmenerzählung Erinnerungen Maass’ an eine eigene Zugfahrt quer durch die USA spiegelt, nimmt die Binnenerzählung eine Geschichte auf, die Maass zu der Zeit in einer New Yorker Zeitung gelesen hatte: Ein kleiner Junge wird entführt und es wird Lösegeld verlangt. Trotz Zahlung aber taucht der Junge nur noch tot auf – mit Spuren grausamer Folterungen am Körper.

Maass verlegt die Geschichte von New York in ein kleines Kaff in Nebraska und macht daraus eine Geschichte von beruflicher und privater Eifersucht. Kelletat, der Herausgeber meines Büchleins, spricht davon, dass Maass viele Symbole verwendet, ohne allerdings den Begriff ‚Symbolismus‘ auf ihn anzuwenden (der als literaturgeschichtliche Epoche tatsächlich ja nicht mehr aktuell war zur Zeit, als Maass schrieb). Kelletat vergleicht den Vater des Jungen in der Binnenerzählung mit dem biblischen Hiob, der alles verliert. Denn auch Maass’ Protagonist verliert alles: sein Kind, seine Frau und zuletzt das eigene Leben. Es handelt sich also um einen Hiob, der von Gott nicht mehr auf dieser Welt für sein braves Hinhalten belohnt wird. In einem Brief an seinen Freund aus der Rahmenerzählung schildert der Vater den ganzen Fall und legt dabei immer wieder Wert darauf, an welchem Punkt der Ereignisse er eigentlich gespürt hatte, dass er hier und jetzt etwas anderes hätte tun sollen als er dann tatsächlich tat. Nicht nur ein Hiob also sondern auch ein Sokrates, dessen Dämon zu leise spricht oder der seinen Dämon missachtet. (Nebenbei – auch darauf weist Kelletat hin – gibt der Autor in der Wahl seiner Worte den Lesenden jede Menge Hinweise, mit denen sie den Kriminalfall hätten lösen können. Maass ist – nicht nur diesbezüglich – tatsächlich ein Meister der Sprache.)

Die kurze Geschichte ist ein kleines literarisches Fundstück, das wieder gehoben zu haben dem Verlag (s.u.) zur Ehre gereicht. Ich kann sie nur zur Lektüre empfehlen. Wie überhaupt das ganze Büchlein. Denn wir finden darin auch zwei kurze autobiografische Texte Maass‘, in denen er vor allem begründet, warum er nach dem Krieg letztendlich in den USA geblieben ist.

Den Dämon, auf den der Arzt seiner Geschichte nicht gehört hat, verspürte wohl auch Maass selber. Anders als sein Protagonist aber hörte er auf ihn. Er führte ihn nicht nur ins Exil in die USA. Er veranlasste ihn auch, dort zu bleiben, nachdem er Anfang der 1960er noch einmal in die BRD zurück gekehrt war. Dieser Dämon, den ich ganz oben seinen ‚Anstand‘ genannt habe, ließ ihn bei jedem Besuch in der alten Heimat ein Missbehagen empfinden –

[…] jenes tiefe Missbehagen, das mich bei jedem meiner Deutschlandbesuche nach dem Kriegsende bereits nach wenigen Tagen beschlichen und allmählich immer tiefer durchdrungen und mir schließlich den Aufenthalt vergiftet und vergällt hat. […] [N]icht um politische, sondern um sittliche Fragen geht es hier, um Entscheidungen und Empfindlichkeiten im Bereiche schlechthin des Guten und des Bösen. [Joachim Maass: Ich lebe nicht in der Bundesrepublik, in diesem Band S. 66]

Beim Gros meiner Landsleute fand er

[n]irgends und bei niemandem […] auch nur einen Nachhall jenes Entsetzens, des Zornes, Hasses oder Widerwillens, kurz all jener Reaktionen vor, die das unsägliche Treiben der Naziprominenz und ihrer nur allzu willigen, emsigen Handlanger-Horden doch in jeder gesunden und stolzen Seele unbedingt hätte hinterlassen müssen. [Joachim Maass: Ich lebe nicht in der Bundesrepublik, in diesem Band S. 67f]

Anders als der Vater in seiner kurzen Geschichte, anders auch als das Gros der Deutschen (der deutschen Schriftsteller wohl im Speziellen) konnte Maass seinen Dämon nicht zum Schweigen bringen. So wurde sein Exil in den USA ein definitives und in Deutschland ging er mehr oder weniger vergessen. Maass war sich dieser Konsequenzen durchaus bewusst. Aber wie Sokrates konnte er wohl nicht anders.

Wenn ich von dieser kleinen Erzählung auf seine weiteren Werke schließen darf, ist es durchaus ein Fehler, dass man ihn heute mehr oder weniger vergessen hat. Maass schreibt gut. Und klug. Ergo, wie schon gesagt: Lesenswert.


Joachim Maass: Der Schnee vor Nebraska. Erzählung. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Andreas F. Kelletat. Copyright © persona verlag Lisette Buchholz, 2024.

Wir danken dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Ansichten seit Veröffentlichung bzw. 17.03.2025: 0

1 Reply to “Joachim Maass: Der Schnee von Nebraska”

  1. Die Besprechung hat mich sehr gefreut, denn Joachim Maass hat es nicht leicht, da er, wie Sie zutreffend schreiben, so gut wie völlig vergessen ist. Suhrkamp hat 2016 den Erinnerungsroman „Die unwiederbringliche Zeit“ als BoD zugänglich gemacht, aber alles andere ruht in Bibiotheken – bestenfalls. Danke für Ihr Interesse!

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