Crane bekennt zu Beginn, dass eine genaue Begriffsbestimmung dessen, was man unter Religion versteht, kaum möglich ist: „Womöglich fordert die Leserin nun von mir eine Definition dessen, was ich unter Religion verstehe. Hier muss ich passen, jedenfalls wenn damit »Definition« in einem strengen Sinn gemeint ist. Friedrich Nietzsche hat gesagt, dass nur Dinge, die keine Geschichte haben, definiert werden können, und wenn er recht hat (was gewiss der Fall ist), dann lässt sich Religion nicht definieren.“ Ob Nietzsche diesfalls tatsächlich richtig liegt, möchte ich dahingestellt lassen, aber ich habe meine Zweifel. Crane fährt fort:“Religion ist derart verwoben mit der Menschheitsgeschichte und der Prähistorie, dass eine präzise Definition, wie wir sie aus der Mathematik kennen – die mit ihren Zahlen, Funktionen, Mengen usw. das Musterbeispiel einer geschichtslosen Angelegenheit abgibt –, nichts ist, worauf wir hoffen sollten.“ Dass Mathematik geschichtslos ist, halte ich ebenfalls für mehr als fragwürdig; der Grund, warum ich dies so ausführlich zitiere, liegt darin, dass der Autor trotz der von ihm skizzierten Unmöglichkeit einer sinnvollen Definition, mehr wie zwei Drittel des Buches diesen zuvor als unzulänglich eingestuften Versuchen widmet und seine Ergebnisse zur Grundlage seiner Ausführungen macht. Und dies auf eine apodiktische Weise, die entgegen der zuvor eingestandenen Schwierigkeiten keinen Widerspruch dulden und andere Auffassungen (wie etwa die der „Neuen Atheisten“, obschon er diese einigermaßen entstellt) als fehlgeleitet und falsch zurückweist.
Religion besteht für Crane aus einem „religiösen Impuls“ ([dieser] … beinhaltet die Auffassung, dass die Welt kein bedeutungsloser Ort ist. Deshalb kann dies nicht alles sein, was es gibt“, der ins Transzendente verweist, als auch aus einer Form der Identifikation mit den entsprechenden Inhalten. Dadurch versucht er zum einen, die Religionsdefinition des „Neuen Atheismus“ als defizitär zu erweisen, denn diese würden sich ausschließlich auf kosmologische bzw. metaphysische Prinzipien konzentrieren (was schlicht falsch ist, gerade Dawkins geht ausführlich auf die soziale Funktion der Religion ein)*; zum anderen versucht Crane eine bloß gefühlte, gelebte Religion (nebst ihren sozialen Implikationen) als das wirklich Konstituierende zu erweisen. Da nun aber auch Kegel- oder Fußballvereine eine ganz ähnliche Funktion (nebst entsprechenden Ritualen) erfüllen, benötigt Crane die erwähnte Transzendenz – und weil etwa – nach Durkheim – die Magie (etwas durchaus Transzendentes) von der Religion geschieden werden muss, wird dieser das Identifkationsmerkmal abgesprochen (eine Unterscheidung, die allerdings höchst problematisch ist und keineswegs so trennscharf, wie Crane sich das wünscht: George Minois verweist in seinem Buch über Atheismus mittels Schaubild (S. 27) auf die zahllosen Übergänge von religiöser zu abergläubischer bzw. magischer Haltung). Natürlich sind Magie und Religion nicht in eins zu setzen, aber Religion beinhaltet magische Aspekte wie auch die Magie religiöse Aspekte zeigt (und – wie aus der Anthropologie bekannt – sich zur Religion entwickeln kann).
All das bleibt bei Crane auf eine Weise unterbestimmt und verschwommen, dass man kaum versteht, warum er diese seltsamen Ab- und Eingrenzungen vornimmt. Religion ist dann schließlich für ihn einfach das, was von Religiösen gelebt und praktiziert wird, es hat auch nichts mit theologischen Spitzfindigkeiten zu tun (er trifft implizit die sicher richtige Feststellung, dass die meisten Gläubigen gar nicht wissen, woran sie glauben bzw. zu glauben verpflichtet sind). Ich weiß allerdings nicht, was man nun aus dieser höchst trivialen Feststellung folgern soll oder kann, außer dass eine Gemeinschaft ein Gemeinschaftsgefühl entwickelt (keine wirklich bahnbrechende Erkenntnis) und diese Gemeinschaft nach irgendeinem verqueren Sinn im Transzendenten sucht (es muss ja irgendwas geben). Ist das nun gut so? Nicht unbedingt: Denn das Wir-Gefühl (ob in der Religion oder beim Fußballverein) bedeutet fast immer Abgrenzung; je stärker diese Abgrenzung vollzogen wird, desto eher werden dem anderen bestimmte Rechte, eine Art von Gleichwertigkeit abgesprochen. Und die Flucht in die Transzendenz dient häufig dazu, die Vernunft bei Bedarf zu suspendieren und auf logische Begründungszusammenhänge zu verzichten, um weiterhin seiner ganz eigenen Wahrheit pflegen zu können.
Letzteres verweist auf die potentielle Wissenschaftsfeindlichkeit jeder Religion: Weil eben die Wissenschaft (bzw. die logisch-rational-deduktive Art der Diskussion und der Grundsatz, dass es für Kritik kein Dogma geben darf) automatisch mit den allen Glaubensrichtungen inhärenten Absolutheitsansprüchen konfligiert. Zahlreichen Kirchenvertretern war und ist diese Problematik bewusst, allerdings sind alle Lösungsansätze (am bekanntesten sind die Entmythologisierungsversuche von Rudolf Bultmann) zum Scheitern verurteilt (selbst Crane verweist im Buch auf das bekannte Pauluswort, dass „ohne die Auferstehung der Glaube leer“ sei). Nun ist – wie in diesem Fall – nicht zu erkennen, wie man den für das Christentum konstituierenden Auferstehungsglauben mit einer wissenschaftlichen Haltung in Einklang bringen könnte. Crane (ein Philosoph, der eigentlich mit logischen Grundprinzipien vertraut sein sollte) findet eine einfache Lösung: Er konstatiert, dass es gläubige Wissenschaftler gäbe und man daraus ersehen könne, dass ein solcher Widerspruch offenbar nicht besteht. Ernsthaft – Mr. Crane? Der beim Sonntagsgottesdienst auftauchende Physiker als Beweis für harmonische Symbiose von Wunderglaube und Szientismus? Der gelebte Widerspruch hebt denselben auf? Wie man sich als anerkannter und mit einer Professur versehener Philosoph zu einer solchen Beweisführung versteigen kann, bleibt mir rätselhaft: Allerdings gehört er wie der im Buch von ihm mehrfach positiv erwähnte Pascal Boyer zu einer Gruppe von „Denkern“, die es mit Logik, Wissenschaft und inhärenten Widersprüchen offenbar so genau nicht nehmen (siehe hier, zu Boyer und Konsorten.
An diesem Punkt hätte ich nun endgültig abgebrochen, wenn ich nicht schon dem Ende (des Buches, jedoch auch meiner Geduld) nahe gewesen wäre: Das dann nicht einer gewissen Kuriosität entbehrte. Denn Crane widmet sich nun den zahlreichen Gräueln, die offenbar durch Religiosität verursacht werden. Anfangs gesteht er diese Verbindung noch ein, weist allerdings (mit Recht) darauf hin, dass es in den meisten Konflikten neben religiösen auch machtpolitische und gesellschaftliche Ursachen gegeben hätte. Dann aber findet er im 20. Jahrhundert (Nationalsozialismus, Stalinismus, Maoismus) eine ungleich größere Opferzahl als bei allen religiös motivierten Auseinandersetzungen zuvor und schließt daraus, dass es eben nicht hauptsächlich die Religion sein könne, die für die größten Massaker verantwortlich zeichne. Wiederum eine höchst seltsame und unzulässige Schlussfolgerung: Als wollte sich ein Mörder darauf berufen, dass Jeffrey Dahmer doch mindestens 17, Gary Ridgway sogar 49 Menschen getötet habe und man ihm deshalb die allenthalben erschlagene Ehefrau doch nicht als allzu schlimme Missetat ankreiden solle. Andererseits ist die Religion natürlich manchmal Auslöser, dann wieder Brandbeschleuniger für diese Gemetzel (und pseudoreligiöse Komponenten sind in den erwähnten Diktaturen des 20. Jahrhunderts offenkundig: Etwa die Verehrung der Führer, ihre Unfehlbarkeit beanspruchenden Maßnahmen (die Partei, die Partei, die hat immer Recht), heilige Schriften – nicht zufällig wurde Maos Buch als „Bibel“ apostrophiert, der Hinweis auf ein zukünftiges Paradies, der Dogmatismus, Irrationalismus usf.). Religion ist vielmehr dem Nationalismus vergleichbar und im Regelfall verstärken sich die beiden – wie etwa derzeit in Russland. Crane sieht das anders – und als Beleg dient ihm schließlich der Jugoslawien-Krieg, in dem jene nationalistisch-religiöse Verbindung ebenfalls evident wurde. Dem sei nicht so gewesen: Denn in der kroatisch-serbischen (und also christlich-orthodoxen und katholischen) Auseinandersetzung hätten die meisten Beteiligten doch gar nicht um die entscheidenden Unterschiede im Glauben gewusst (für das Schisma u. a. entscheidend der Zusatz filioque im Glaubensbekenntnis: dass der Heilige Geist aus Vater und Sohn hervorgegangen wäre, was katholischerseits bejaht und von den Orthodoxen bestritten wurde). Ich zitiere Crane: „Die Behauptung, der Filioque-Zusatz sei einer der Faktoren gewesen, die den Krieg zwischen Serben und Kroaten in den 1990er Jahren beeinflusst haben, wäre völlig falsch, ja sogar frivol.“ (So nebenbei: Wer in aller Welt hat derlei je behauptet oder gedacht??) Und er führt diese mehr als hanebüchene Argumentation an, obwohl er ein Kapitel zuvor noch das Wissen um theologische Spitzfindigkeiten als für die Ausübung von Religion für völlig nebensächlich erachtet hatte.
Das alles ist so ungeheuer dämlich, widersinnig und jeder Logik bar, dass er damit seinem ursprünglichen Anliegen, für mehr Toleranz oder Respekt der Religionen zu sorgen, einen Bärendienst erweist. Obwohl ich selbst ein solches Vorhaben zu unterstützen kein Bedürfnis verspüre, wäre ich mit Sicherheit in der Lage, eine sehr viel bessere Verteidigung religiöser Überzeugungen anzubieten als dieses unsägliche Elaborat es zu tun in der Lage ist (und ich habe hier längst nicht alle Abstrusitäten dieses Buches aufgezeigt). Vielleicht sollte ich Bücher von Philosphen zukünftig meiden: Während aber W. Eilenberger hier einfach nur Unsinn zusammengeschmiert hat (wohl aus pekuniären Gründen), ist mir Cranes Motivation für diesen haarsträubenden Unfug nicht wirklich klar. Seine „Argumente“ sind so einfältig und im Grunde eine Beleidigung der Intelligenz jedes Lesers, dass sie dem intendierten Zweck, Verständnis für Religion erwecken, völlig verfehlen. Damit wird selbst der Religion Unrecht getan, eine solche Verteidigung hat nicht mal sie verdient.
*) Durch den Bezug auf die kosmologischen Komponenten lassen sich die von der Religion erhobenen Welterklärungsmodelle leicht als falsch erweisen und dadurch der Anspruch eines offenbarten (also wahren oder als wahr vorausgesetzten) Glaubens ad absurdum führen (was die neuen Atheisten mit Genuss machen – und zu Recht).
Tim Crane: Die Bedeutung des Glaubens. Religion aus der Sicht eines Atheisten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2019. (ebook)