Das erste Zitat stammt aus Pascal Boyer – Und Mensch schuf Gott. Ein „Kognitionsexperte, Anthropologe und Religionsphilosoph“ auf den Spuren Feuerbachs. Klingt also ganz interessant und fällt in mein Beuteschema, wenn ich da nicht auf S. 26 mit folgenden, seltsamen Ansichten konfrontiert würde, nachdem Boyer die Ansicht zurückgewiesen hat, dass „der Mensch, wenn er auf ein Ereignis trifft und nicht die begrifflichen Mittel besitzt, es zu verstehen, eine spekulative Erklärung zu finden versucht“ (Das halte ich keineswegs für gänzlich falsch, sondern für in weiten Teilen zutreffend.) Boyer ist hingegen der Meinung, dass dies grundfalsch sei, denn viele Phänomene seien uns von Jugend an vertraut und doch suche niemand nach einer Erklärung. „So wissen wir, dasss unsere Körperbewegungen nicht von äußeren Kräften verursacht werden, die uns ziehen oder schieben, sondern durch unsere Gedanken. Das heißt, wenn ich meinen Arm ausstrecke und meine Hand öffne, um jemandem die Hand zu schütteln, dann will ich eben genau das tun.“ (Hervorhebung im Original) Und weiter: „Ebenso nehmen wir an, dass Gedanken kein Gewicht und keine Größe oder andere sachliche Eigenschaften haben (die Vorstellung eines Apfels ist nicht die Größe eines Apfels, die Vorstellung von Wasser fließt nicht, die Vorstellung eines Felsens ist nicht fester als die Vorstellung von Butter). Um ein klassisches Beispiel zu wählen: Wenn ich die Absicht habe, meinen Arm zu heben, dann hat diese Absicht selbst kein Gewicht und keine Festigkeit. Gleichwohl schafft sie es, Teile meines Körpers in Bewegung zu setzen. Wie ist das möglich? Wie können substanzlose Dinge Wirkungen in der materiellen Welt hervorrufen?“ (Meine Hervorhebung) Das alles sei ein schwieriges Problem für Philosophen und Kognitionswissenschaftler.
Mit Verlaub – das ist Nonsens, das sind bestenfalls philosophische Stammtischüberlegungen, deren „Schwierigkeiten“ darin bestehen, dass in höchst trivialer Weise über Philosophie räsoniert wird. Ergebnis ist etwa das von mir hervorgehobene „substanzlose Ding“. Denn hier stellt sich tatsächlich ein veritables Problem: Was soll das sein – substanzlos und Ding zugleich, das ist eine Contradictio in adiecto, ein hölzernes Eisen – und das zu erschaffen wurde selbst von den Scholastikern der göttlichen Allmacht nicht zugemutet. Wenn man aber das Gehirn als das nimmt, was es ist, bestückt mit 100 Milliarden Neuronen, Trillionen von Synapsen, einem permanenten chemischen Feuerwerk ausgesetzt und elektrischen Impulsen: Dann wird aus der Frage, wie schwer denn der Gedanke an Butter oder Felsen wiegt, die Frage nach dem Gewicht von elektrischem Strom oder chemischen Zuständen. Beides kann mit der Personenwaage kaum bestimmt werden, sehr wohl aber unterscheidet sich (um auf die „klassische“ Frage Boyers zurückzukommen) der Zustand eines Gehirns, das den Arm nicht hebt (oder heben will, aber das Problem der Willensfreiheit sei hier nicht weiter erörtert) von dem, das einen Arm zu heben versucht. Dass die Komplexität des Gehirns eine solche Unterscheidung mit unseren derzeitigen Mitteln nicht zulässt (vielleicht nie zulassen wird) ändert nichts an der Tatsache: Denn andere, unterschiedliche Zustände des Gehirns konnten durch bildgebende Verfahren längst ausgewiesen werden (eine, wenn auch sehr unvollkommene Weise des Gedankenlesens – Beispiele u. a. bei Sapolsky). Erst wenn man auf die absurde Idee kommt, Vorstellungen (Repräsentationen dessen, was durch Sinne im Gehirn zur Verarbeitung kommt) mit der Außenwelt in eins zu setzen (was dann in Fragen nach dem Gewicht von Gedankens resultiert), dann erst wird das Ganze zu einem „schwierigen“ Problem und dann erst landet man an der Klippe, an der auch schon Descartes gescheitert ist: Wie denn das Nichts (res cogitans) seinen Einfluss auf die res extensa geltend macht.
Dieser platte Unsinn wird nun aber auch von anderen Philosophen hochgehalten, die – wie eingangs erwähnt – wohl auch aus Angst, ihre Profession könne überflüssig werden, sich gegen wissenschaftliche Erkenntnis und Forschung stellen. So liest man bei Markus Gabriel in der Einleitung zu seinem Buch „Ich ist nicht Gehirn“ folgendes: „Wie gesagt, ist die hier eingenommene Perspektive die des Antinaturalismus, das heißt, es wird davon ausgegangen, dass nicht alles, was es gibt, in Wirklichkeit naturwissenschaftlich untersuchbar bzw. materiell ist. Ich sage also, dass es immaterielle Wirklichkeiten gibt und halte dies eigentlich für eine jedem zugängliche Einsicht des gesunden Menschenverstandes.“ (Hervorhebung im Original – an einer solchen Gesundheit zu zweifeln scheint mir aber Philosophen- und Bürgerpflicht.) Wie belegt nun der p. t. Denker diese seine Ansicht, die er allenthalben an deutschen Universitäten verbreiten darf? „Wenn ich jemanden als Freund betrachte, daher entsprechende Gefühle ihm gegenüber habe und mein Verhalten daran anpasse, meine ich nicht, dass die Freundschaft zwischen ihm und mir ein materielles Ding sei.“ Es ist einfach nur erstaunlich, dass man – ohne sich für seine Einfalt zu schämen – einen derartigen Unsinn vertreten kann (in einem Buch, das vorgibt, ein Philosophisches und kein Esoterisches zu sein). Erstaunlich auch, weil in philosophischen Proseminaren derart eklatante Denkfehler eigentlich besprochen und erörtert werden (die primären und sekundären Qualitäten Lockes und ihre Behandlung durch Berkeley bieten sich dafür an). Und das alles wäre im Grunde nicht erwähnenswert und unter die Kategorie Einfalt zu subsummieren, wenn dieser philosophische Nonsens nicht überaus reale Auswirkungen hätte: So wie der Relativismus der Postmoderne das Postfaktische von Trump & Co. vorbereitet hat, so sind „Philosophen“ wie Gabriel die sinistren Wegbereiter eines esoterischen Weltbildes, in dem dann ganz selbstverständlich von „immateriellen Wirklichkeiten“, von Geistwesen und allerlei anderen begrifflichen Sonderbarkeiten die Rede ist.
Dass man sich damit im übrigen auch der Grundlagen der Naturwissenschaft entledigt, scheint solche Flachdenker nicht weiter zu stören (im Gegenteil, man sucht sich in seinem trauten philosophischen Stübchen gemütlich einzurichten und ist darauf bedacht, nur ja nichts „Wissenschaftliches“ an sich herankommen zu lassen): Mit jeder immateriellen Wirklichkeit, jedem substanzlosen Ding (wobei mir nie klar wird, wie man sich etwas nicht Existierendes gleichzeitig als existierend auch nur vorstellen kann) würde der Energieerhaltungssatz außer Kraft gesetzt (das hätte wenigstens den Vorteil, das wir uns um unsere Energiebilanz hier auf der Erde keine Sorgen mehr machten müssten – endlich ein perpetuum mobile). Nun bin ich mir dessen durchaus bewusst, dass naturwissenschaftliche Erkenntnisse nicht in Stein gemeißelt sind und keine Gewissheit für sich beanspruchen können – aber das mangelnde Gewicht von vorgestellten Felsen oder der Freundschaft scheint wenig Anlass für ein Abkehr vom Zweiten Erhaltungssatz der Thermodynamik zu geben.
Wie schon erwähnt reicht meine Phantasie nicht aus für die Vorstellung solcher Abstrusitäten. Und ich habe auch noch nie eine auch nur ansatzweise verständliche Darstellung dieser immateriellen Wirklichkeiten vernommen: Wenn die Freundschaft, ihr Begriff nicht an ein Gehirn gebunden ist (in dem dieser Begriff in einer wahrscheinlich so komplizierten Weise realisiert wird, dass man noch lange vergeblich auf ein spezifisches Muster wird warten müssen, ein Muster allerdings, das man zumindest theoretisch finden könnte, weil es eben einem bestimmten Zustand entspricht – ebenso wie es andere, permanente Veränderungen im Gehirn gibt, die dann mal länger, mal kürzer uns als Erinnerungen zur Verfügung stehen) – wie hat man sich dann diese „Freundschaft“ vorzustellen? Als etwas Substanzloses, Antimaterielles, schwebend (aber wenn es nicht vorhanden ist, kann es noch nicht mal schweben) zwischen den Menschen, ein „geistiges“ Band? Immer endend mit der Frage, wie etwas sein kann, das nicht ist?* Wie soll eine Ontologie beschaffen sein, die dergleichen bewerkstelligt? Gewiss bleibt einzig, dass auch diesen Einfältigkeiten etwas im Gehirn derer entspricht, die sie von sich geben: Hier würde man sich Substanzlosigkeit manchmal wünschen.
*) Manchmal amüsiert man sich in außerphilosophischen Kreisen über Sätze wie den vom Widerspruch: „Denn es ist unmöglich, dass dasselbe demselben in derselben Beziehung zugleich zukomme und nicht zukomme.“ Das sei selbstevident und bedürfe nicht einer expliziten Ausformulierung. Die beiden erwähnten „Philosophen“ hingegen treten den Beweis dafür an, wie wichtig selbst solch triviale Festlegungen sind.
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