Kuno Raeber (1922-1992) ist für mich die literarische Entdeckung des Jahres. Einer der grossen Vergessenen der deutschen Literatur, ähnlich wie Thelen oder Wense, allerdings bereits einer jüngeren Generation angehörend. Ähnlich wie Thelen auch sein Schicksal, von der Gruppe 47 abgelehnt zu werden. (Was nur zeigt, wie wenig zeitgenössische Kritik oft erkennt.)
Raeber ist in Luzern aufgewachsen. Stockkatholische Innerschweiz zu jener Zeit noch. So stockkatholisch, dass der junge Mann freiwillig als Novize in ein Jesuitenkloster eintrat. Allerdings trat er denn auch fast am Folgetag wieder aus. Er liess die katholische Kirche hinter sich. Seine Heirat wurde zum Fiasko. Nun erst ging Raeber ganz auch sich heraus und bekannte sich als homosexuell – immerhin zu einer Zeit, als dies noch einen Strafbestand darstellte.
Seine Romane stehen im Zeichen einer ganz eigenen Poetologie. Ursprünglich ein von Rilke und Hofmannsthal herkommender Lyriker, widmete er sich immer mehr dem Roman. Seine Romane sind grossartige, traumartige Sequenzen, indem er sich – obwohl (oder weil?) von Hause aus Historiker – nicht einer zeitlichen Folge der Ereignisse verbunden fühlte, sondern die Ereignisse assoziativ aneinander reihte, oder genauer ausgedrückt, ineinander verschachtelte. (Hier wäre wohl Freuds Ausdruck der „Verdichtung“ im wahrsten Sinne des Wortes an seinem Platz). Diese Verdichtung allerdings erleichtert wohl das Verständnis seiner Schriften nicht unbedingt. Wenn zwei römische Kaiser auf der Spitze des Empire State Buildings in New York aztekische Opferriten an der Hauptfigur des Romans „Alexius unter der Treppe oder Geständnisse vor einer Katze“ ausüben, diese Hauptfigur aber dann über ein paar weitere Hundert Seiten auch weiter agiert, so ist das schon starker Tobak.
Doch Raeber ist der Poet des Konjunktiv. Was wäre wenn?, fragt er sich – und er spielt die Möglichkeiten durch. Daneben spielt – wir haben es oben schon angetönt – die Figur des Opferns eine grosse Rolle in Raebers poetologischem Denken. Ausgehend von Hofmannsthal, der den Dichter als Opfer seines Werks beschreibt, ist für Raeber das Opfer die zentrale Figur einer Dichtung. Dabei greift er neben Hofmannsthal auf die mittelalterlichen Märtyrerlegenden zurück. Doch findet man nicht nur finsteres Mittelalter bei ihm. Auch Beschreibungen der Homosexuellen-Szene im zeitgenössischen Rom dürfen nicht fehlen. Rom ist Raebers Stadt. (Er hat lange dort gelebt, eine Zeitlang sogar die dortige Schweizer Schule geleitet.) Das hindert ihn allerdings nicht daran, ein sehr düsteres Bild von dem zu liefern, was sich damals in der Szene offenbar abspielte.
Fazit: Ein Vergessener, den wiederzuentdecken sich lohnen würde. Leider ist die fünfbändige Werkausgabe, die ich gelesen habe, wohl bereits vergriffen.
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