„Haben Sie auch trockenen Wein? Wir trinken nämlich nur trockenen!“ – mit diesen Worten (mit starkem norddeutschen Akzent gesprochen) hat mich gestern eine ältere Dame mit ihrem Mann im Schlepptau aus meiner Meditiation über den Abgang eines sardinischen Weissweins geschreckt. Ich war auf einen Sprung an der lokalen Weinmesse, um die Weine der beiden Gastinseln, Sardinien und Sizilien, zu degustieren.
Da haben uns die alten Griechen – Anakreon wohl voran – ja ein schönes Ei gelegt. Ihre Metapher vom „süssen Wein“ hat jahrhundertelang die Deutschen dazu verführt, wortwörtlich danach zu verlangen und so den Zuckerrübenproduzenten ein gewichtiges Wort in der Weinproduktion zuzumessen. Dabei ist es heute eigentlich ein Gemeinplatz, dass die alten Griechen wie die alten Römer ihren Wein nur mit Wasser verdünnt tranken – wer ihn unverdünnt genoss, galt als Säufer. Und dennoch verdanken wir ihnen auch den Topos vom (be)trunkenen Dichter. Trunken zu sein, gilt dem Philosophen als Schimpf – mit Ausnahme vielleicht von Nietzsche. Selbst der poetischste aller Philosophen, Platon, der zumindest die Gespräche seiner frühen und mittleren Phase durchaus auch mit poetischem Kalkül und dem Gespür des Dramatikers für die rechte Pointe am rechten Ort komponierte, – selbst Platon also lässt seinen Sokrates zwar am Gastmahl teilnehmen, aber der Philosoph ist der einzige, der am nächsten Morgen vom Tisch aufstehen und seiner üblichen Tätigkeit nachgehen kann, obwohl er keineswegs weniger getrunken hat als die übrigen. Und mit der Übernahme der philosophischen Regierungsgeschäfte durch die Stoa wurde der Lebens- und Weingenuss philosophisch rasch verpönt. Epikur, der keineswegs Epikuräer im heutigen Sinne war, wurde so durch stoische Verleumdung zum Unphilosophen verwandelt. Und der Versuch, den Genuss bei Essen und Trinken zu analysieren, blieb selbstverständlich einem Franzosen vorbehalten: Jean Anthelme Brillat-Savarins Physiologie des Geschmacks stammt aus dem ersten Viertel des 19. Jahrhunderts.
Anders die Poesie. Vor allem natürlich die anakreontische Lyrik hat immer wieder auf den Topos des süssen Weins, auf den der Trunkenheit des Dichters zurückgegriffen. Im realen Leben waren zumindest die deutschen Anakreontiker allerdings alles brave Bürger. Auch wenn es ebenso ein Topos der Literaturrezeption geworden ist: Der Dichter als Alkoholiker stellt eine Ausnahme dar. Natürlich gibt es die Ausnahmen. Joseph Roth hat sich buchstäblich zu Tode gesoffen. (1934, in einem Brief an Stefan Zweig: „Warum sprechen Sie mir von Alkohol? Sie wissen, daß ich längst nur Wein trinke.“) Und Goethes berühmte, nur für ihn reservierte, Flasche Wein zu jeder Mahlzeit wird auch gerne zitiert. Der Rheinländer Goethe liess sich den Wein seiner Heimat über seine Mutter oder seinen Freund Merck zustellen. Merck selber importierte für sich den Waadtländer Wein seines Schwiegervaters… Goethe hingegen konnte auch seinen Landesvater von der Qualität des Rheinweins überzeugen. Dass er sich mit Jean Paul nicht verstand, lag nicht zuletzt daran, dass dieser bekennender – Biertrinker war. Und schon damals hatte Wein den Ruf, den Geist aufzuwecken und anzuregen; Bier dagegen sollte einschläfernd und einlullend wirken. Also galt der Biertrinker Jean Paul dem Weintrinker Goethe als dumpf.
Und nun also diese norddeutsche Dame, die „trockenen Wein“ verlangte. Ich will ja nicht prinzipiell behaupten, dass Deutsche oder Norddeutsche allesamt nichts von Wein verstünden. Oder Damen. Ich selber verstehe sehr wenig davon. Dem Wortgeklingel von Duftnoten und Abgängen nach Pfeffer und Himbeere kann ich so wenig abgewinnen, wie John Locke es dem Wortgeklingel der Scholastik konnte. (Und wenn ich Locke vorhalten würde, die Scholastik falsch einzuschätzen, indem die Finessen ihrer Diskussionen durchaus einen Sinn hatten, so wird mir ein Weinkenner wohl dasselbe vorwerfen können.) Ich halte es dennoch mit Richard Katz, der (ich glaube, in seiner Autobiografie Gruß aus der Hängematte) sich dazu bekannte, auch im Restaurant sich an die mittelpreisigen Gewächse zu halten, weil sein Gaumen für die Finessen hochpreisigen Weins einfach nicht gerüstet sei. Andern geht es mit der Hochgebirgsliteratur so.
Die Dame kriegte dann ihren trockenen Wein. An einem andern Stand. Der sardinische Wein ist sehr eigenständig. Nicht für jeden, halt. ;o)
Ich bin von einer norddeutschen Dame darauf hingewiesen worden, dass Goethe kein Rheinländer gewesen sei, sondern – als Frankfurter – selbstverständlich ein Hesse. Selbstverständlich. Ich entschuldige mich hiermit in aller Form bei den Hessen, dass ich ihnen Goethe stibitzt habe. Und ich entschuldige mich hiermit in aller Form bei den Rheinländern, dass ich ihnen Goethe aufdrängte.
Da aber andererseits die Frankfurter in meinem Menschenbild nur Äppelwoi trinken, muss der Weintrinker Goethe doch ein Rheinländer gewesen sein …