Wilhelm Genazino: Falsche Jahre

D.i. Bd. 3 d. sog. “Abschaffel-Trilogie”.

Wiederum schliesst Genazino nahtlos an den vorhergehenden Band an: Abschaffel steht auf dem Bahnsteig und wartet auf den Zug, der ihn an den Ort seiner Kur fahren soll. Dadurch, dass wir Abschaffels heimatliches Frankfurt verlassen, kommt sogar so etwas wie „Action“ in die Geschichte. Zwar wird Abschaffel auch am neuen Ort nicht viel anderes tun, als herumzuspazieren – mangels Stadt halt im Dorf, in dem die Klinik liegt. Statt der Leute in der Stadt mustert er nun die Leute im Dorf und die Mitpatienten in der Klinik, statt in den grossen Kaufhäusern der Stadt steht er vor den bescheidenen Schaufenstern des Dorfes herum. Im Grunde genommen weiss er auf dem Dorf so wenig mit sich anzufangen wie in der Stadt. Seine merkwürdigen sexuellen Phantasien verfolgen ihn auch hier; auch hier legt er sich eine temporäre Geliebte zu, die ihm schon bald zu nahe kommt, und von der er deswegen wieder wegdriftet. (Wenigstens spart Genazino dem Leser allzu explizite Schilderungen ihrer sexuellen Betätigung.) Abschaffels Beobachtungen bleiben präzise, seine daraus gezogenen Schlussfolgerungen abstrus. Und dennoch merkt der Leser, dass sich Abschaffel auf dem Land noch um einen Tick fremder fühlt.

Etwas allerdings ist neu: Während Abschaffel in seiner Heimatstadt allein und stumm vor sich hin räsonnierte, hat er hier einen Zuhörer. Die Klinik ist nämlich spezialisiert auf psychosomatische Erkrankungen und zählt dementsprechend auch einen Psychiater zu ihrem Ärztestab. (Allerdings kann ich Genazino hier nicht ganz folgen. Im zweiten Teil wird bei Abschaffel eine Osteoporose diagnostiziert, völlig ungewöhnlich für sein Geschlecht und sein Alter. Was Abschaffel aber im zweiten Teil scheinbar aus der Masse heraushob, ist im dritten Teil vergessen, oder wenigstens weit in den Hintergrund gedrängt. Abgesehen davon, dass ich nicht denke, dass Osteoporose je als psychosomatische Erkrankung gegolten hat. Ja, sicher, Abschaffel muss in der Klinik auch ein bisschen turnen. Aber im Grunde genommen stört ihn seine physische Erkrankung plötzlich nicht mehr, sein Rücken hat aufgehört zu schmerzen, schon bevor er in der Klinik angekommen ist.)

Ich habe den Eindruck, dass die Klinik, ja die ganze Erkrankung, eigentlich für den Autor nur ein Vorwand ist, Abschaffels Räsonnieren in eine bestimmte Richtung zu drängen. Wie es sich für eine klassische Psychotherapie gehört, wühlt Abschaffel nämlich nun in Kindheitserinnerungen. Dass dabei sowohl Vater wie Mutter schlecht wegkommen, wundert mich nicht. Dass die Analyse zum Schluss irgendwie im Sande verläuft, auch nicht. Es gehört zu Abschaffel, dass alles irgendwie im Sande verläuft. Ob Genazino hier in satirischer Absicht über die Psychoanalyse schreibt, kann ich allerdings nicht entscheiden. Es will mir fast so scheinen.

Die Kindheits- und Jugenderinnerungen dienen aber wohl auch einem andern Zweck. Abschaffel ist (wie sein Autor Genazino) im Deutschland der Adenauer-Zeit aufgewachsen. Diese aus hochfliegenden Träumen, muffiger Kleinbürgerlichkeit und ängstlicher Rücksichtnahme zusammengesetzte Epoche hat Deutschland geprägt. Hat selbst noch die beginnenden 70er Jahre geprägt, wenn man Genazino glauben will. Die „falschen Jahre“ sind somit die Jahre der Falschheit, ob nun die 50er oder die 70er – denn die Abschaffel Deutschlands werden ihre Erinnerung nicht los.

Zum Schluss finden wir Abschaffel wieder in Frankfurt. Er versucht, sich auf seinen ersten Arbeitstag vorzubereiten, und es gelingt ihm nicht. Wie schon immer wird er sein Verhalten nicht im Voraus planen können, wie schon immer ärgert er sich deswegen über sich selber.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert