… und kommentiert ihn aus.
Nämlich Lockes An Essay Concerning Human Understanding. Leibniz‘ Text ist auf Französisch verfasst und nennt sich Nouveaux Essais sur l’Entendement Humain, was meine Ausgabe übersetzt als Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Da hilft der Übersetzer dem Autor bei einem neckischen kleinen Versteckspiel, indem er Leibniz‘ Anspielung auf den Titel von Lockes Text verschleiert und statt des im Deutschen für Lockes „Essay“ üblichen „Versuch“ eben die „Abhandlung“ setzt. Sachlich hat das keinen Grund, aber es unterstützt Leibniz‘ merkwürdiges Verhalten. Denn der sagt im Vorwort nur: „Da die von einem berühmten Engländer veröffentlichte ‚Abhandlung über den Verstand‘ eines der schönsten und geschätztesten Werke unserer Zeit ist, habe ich mich entschlossen, Bemerkungen darüber zu machen.“ Kein Name. Dabei wird es bleiben: So viele andere Autoren Leibniz im Laufe des Textes mit Namen nennen wird – und mit zusehender Länge des Textes werden es immer mehr: Der Name ‚John Locke‘ fällt nie. Es bleibt beim ‚berühmten Engländer‘. Da ich keine Sekundärliteratur zur Hand habe, kann ich den Grund dafür nicht angeben.
Leibniz hat den Text in Form eines Dialogs verfasst: Ein gewisser Philalethes, der gerade Lockes Essay gelesen hat, diskutiert mit einem gewissen Theophilus(!), der gerade von Descartes‘ rationalistischer Position abgerückt ist und die prästabilierte Harmonie entdeckt hat. Die Rollenverteilung ist klar: Philalethes versucht, Theophilus von der empirischen Position Lockes zu überzeugen, der seinerseits dagegen halten soll. Mit zunehmender Länge des Textes allerdings wird der Dialog immer mehr zu einer Farce. Philalethes zitiert passagenweise praktisch wörtlich aus Lockes Essay, Theophilus antwortet und Philalethes geht zur nächsten Passage über. Das ist nicht, was ich mir unter einem Dialog vorstelle, und was ja eigentlich schon die scholastischen Vorbilder Leibniz‘ besser konnten. Die eh schon dünne Verkleidung des Theophilus wird im Laufe des Textes zusehends dünner, indem der eigentlich als Amateur eingeführte Mann ganz eindeutig die Werke und Briefe seines Autors Leibniz verfasst hat. Ich weiss nicht, liegt es daran, dass Philalethes Lockes empiristische Position nicht richtig vertreten kann, weil Leibniz Locke gar nicht richtig verstehen konnte, oder liegt es an Leibniz‘ Wunschdenken, dass seine Position sowieso die richtige und bessere sei: Jedenfalls erleben wir im Laufe des Textes, wie Philalethes dem Theophilus die Existenz eingeborener Ideen zugibt und im Grunde genommen auch die der prästabilierten Harmonie. Ich zweifle, dass Locke dies dem Leibniz zugegeben hätte …
Der Text – obwohl er zu den wenigen gehört, die Leibniz zu Lebzeiten vollendet hat (er war 1705 schon fertig) – wurde beiseite gelegt, weil Locke unterdessen gestorben war, und erschien dann sogar erst lange nach Leibniz‘ Tod zum ersten Mal. Die Auseinandersetzung Leibniz‘ mit Locke wäre faszinierend, wenn sie etwas kürzer gehalten worden wäre, und sich Leibniz nicht bemüht gefühlt hätte, jedes Argument des Briten auszukommentieren. Ich habe schon bei meinen Bemerkungen zu Locke festgestellt, dass dieser oft weitschweifig, ja geschwätzig ist – und das Eingehen auf jedes kleine Argument macht den hier vorliegenden Dialog nicht besser. Und es ist ja nicht so, dass Leibniz an Locke nur zu kritisieren hätte. In vielem stimmt er ihm bei, ergänzt ihn. Und manchmal biegt er halt Lockes Aussagen zu solchen seiner eigenen Position um. In dieser Auseinandersetzung war Leibniz der bessere Naturwissenschafter, jedenfalls besser als der Brite von den neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und Entwicklungen unterrichtet. Und Leibniz war der bessere Logiker und somit auch Sprachanalytiker als Locke. Leider war er aber auch stärker metaphysisch ausgerichtet und bedeutend mehr in der Scholastik verankert als sein britischer Kollege.
Und so müssen wir sehen, wie die Philosophiegeschichte – jedenfalls in den englisch- und den deutschsprachigen Ländern – über Leibniz hinweggerollt ist. In den lateinischen Ländern, wo Descartes‘ Rationalismus schon immer und noch immer einen stärkeren Einfluss ausübte, ist auch dieser Text von Leibniz besser und intensiver zur Kenntnis genommen worden.
1 Reply to “Gottfried Wilhelm Leibniz liest John Locke…”