Mit diesem Roman schliesse ich meine kleine literarische Expedition ins Reich der Ahnherren und -damen des „Supranatural Horror“, wie sie von H. P. Lovecraft vorgeschlagen wurden. Das Resultat ist durchzogen; zu 100% überzeugen kann heute keiner der alten Horror-Romane mehr. Trivialliteratur – auch gute Trivialliteratur – hat eindeutig eine bedeutend kürzere Halbwertszeit als die sog. Hochliteratur.
Dabei hat Melmoth the Wanderer gar nicht übel begonnen. Die ersten rund 200 Seiten von deren 700 haben Zug. Die Geschichte ist spannend und reisst den Leser mit. Zuerst lesen wir die Geschichte vom Sterben des alten Geizhalses und Onkels Melmoth, die voll schwarzen Humors ist, bissig und satirisch. Das geheimnisvolle Bild des Vorfahren, das der junge Erbe verbrennt, führt dann schon die ersten Elemente des Horror ein. (Der geneigte Leser dieses Beitrags denkt an Oscar Wilde? Richtig! Nicht nur, dass sich der exilierte Oscar Wilde in Paris „Melmoth“ nannte, auch der Schluss des Dorian Gray, mit dem Protagonisten, der plötzlich um Jahre altert, ist von Maturins Roman „geklaut“.) Eine erste Erzählung – standesgemäss einem alten Manuskript entnommen! – berichtet vom ersten Leben, das Melmoth ruiniert hat. Bei diesem Melmoth handelt es sich um einen Vorfahren des nun toten Onkels und des jungen Studenten. Der junge Mann bleibt vorläufig auf dem geerbten Gut. Es folgt eine Schauernacht mit Sturm und Gewitter, einem Schiff, das an der Küste in den Klippen scheitert und einem einzigen Überlebenden, einem Spanier. Der Spanier beginnt dem Erben Melmoth sein Leben zu erzählen, und praktisch der ganze Rest des Romans, runde 600 Seiten, besteht dann aus dieser Erzählung.
Die ist zuerst noch packend und interessant. Maturin schildert sehr detailliert, wie sich die Psyche eines Gefangenen verändert: vom stolzen Widerstand bis hin zur völligen Anpassung an die Gedanken der Wärter, der Inquisitoren. Maturin kannte und beschrieb das „Stockholm-Syndrom“ schon 150 Jahre bevor es der modernen Psychologie ins Blickfeld geriet – und er beschrieb es besser, präziser und fürchterlicher noch als der Marquis unseligen Angedenkens. Die Flucht des Spaniers dann, aus den Gewölben seines Gefängnisses, durch unterirdische Gänge, in der Dunkelheit – ein klaustrophobischer Alptraum.
Der Spanier wird noch einmal von der Inquisition gefangen genommen. (Maturin musste die katholische Kirche nicht sehr gemocht haben. Der anti-papistische Reflex ist zwar gerade für die englische Schauerromantik schon fast ein Standard – man denke an die Schilderungen des spanischen Klosters bei „Monk“ Lewis. Aber Maturin setzt noch einen drauf mit seinen Wiederholungen.) Ab hier verliert der Roman seinen Schwung. Zuerst haben wir nochmals Schilderungen des Gleichen wie gerade vorher, dann entkommt der Spanier zum zweiten Mal. Bei einem Juden, der ihn aufnimmt, soll er ein Manuskript (schon wieder ein Manuskript!) transkribieren, das – o Wunder! – weitere Schauertaten des ewigen Wanderers Melmoth enthält. Es zeigt sich, dass auch hinter dem traurigen Schicksal des Spaniers Melmoth steckt, der eine Art faustischen Pakt mit dem Teufel eingegangen ist, aus dem er nur erlöst werden kann, wenn ein anderer die Bürde übernimmt. Doch so sehr Melmoth auch andere ins Elend stösst – sein Elend will keiner übernehmen. Nur: Dies wird ungeheuer umständlich expliziert. Maturin verschachtelt Erzählung in Erzählung. Der Leser verliert nicht nur den Überblick – er verliert das Interesse. (Wen’s interessiert: In der englischsprachigen Wikipedia ist die Verschachtelung Kapitel um Kapitel festgehalten.) Zum Schluss scheint auch Maturin das Interesse verloren zu haben: Statt weiter zu erzählen und die offenen Handlungsstränge endlich miteinander zu verknüpfen, erscheint als Deus ex machina Melmoth der Wanderer persönlich. Der tut sich ein bisschen leid, träumt von seinem Untergang, altert in einer Nacht um Jahrzehnte und verschwindet dann. Einziges Überbleibsel ist das Tuch, das er um den Hals trug, und das der junge Melmoth und der Spanier auf einer Klippe finden. Finis. Oder, wie meine Grossmutter zu sagen pflegte: Klappe zu – Affe tot.
Die ersten 200 Seiten sind also sehr empfehlenswert. Danach geht’s bergab. Der junge Melmoth hat sowieso keinerlei aktiven Part in der Geschichte; er ist nur das passive Zentrum, zu dem hin alles gravitiert. Auch der Spanier ist nicht wirklich aktiv, sondern leidet nur. Die eingeflochtene Liebesgeschichte zwischen Melmoth und der Inderin ist süsslich-fad. Maturin hackt zu sehr auf die katholische Kirche ein, als dass dies noch einen Effekt auf den Leser haben könnte. Nur die Psychologie des Gefangen-Seins und die Szenen in den unterirdischen Gängen können noch packen.
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