Vita Sackville-West: Eine Frau von vierzig Jahren [Family History]

Evelyn Jarrod ist die Frau von vierzig Jahren. Sie stammt aus grossbürgerlichem Haus und hat in ein noch grösseres, noch reicheres hinein geheiratet. Dieses Haus wird mit eiserner Faust und ungeheurem Charisma von einem 75 Jahre alten Patriarchen regiert. Der alte Mann hat das Haus überhaupt erst gegründet. Er kommt von ziemlich weit unten und ist ein Selfmade-Mann alter britischer Schule, Tory bis in die Knochen. Kohlebergwerke haben ihm zu Reichtum und Wichtigkeit verholfen. Doch er muss sehen, wie bereits seine Söhne dekadent geworden sind. Der eine, Evans, trinkt, der andere, Geoffrey, – nicht einmal das. Der älteste ist im Krieg (gemeint ist, was wir später den Ersten Weltkrieg nannten) ums Leben gekommen; Evelyn ist dessen Witwe. Ihr Sohn Dan(iel), der zukünftige Erbe des Imperiums, ist gerade 18. Auch der Enkel schlägt aus der konservativen britischen Art: Er malt lieber, als auf die Jagd zu reiten, und seine politischen Ansichten stehen sehr weit links. Das bereitet Mutter wie Grossvater ziemliche Sorgen,  auch wenn letzterer doch stolz darauf ist, dass sein Enkel kein meinungsloser, opportunistisch-dekadenter Typ ist wie seine beiden Onkel. (Und wie es offenbar auch sein Vater gewesen ist.) So die Ausgangslage des Romans, der im Englischen denn auch den Titel Family History trägt.

Vita Sackville-Wests Schilderung der Familie, der gemeinsamen Weihnachtsfeier, ist grandios. Da schreibt jemand vom Grossbürgertum, vom kleinen Adel, der diese Klasse und diese Leute genau kannte. Wundervolle Ironie, Liebe zum Detail – letzten Endes auch Liebe zu dieser Klasse – schimmert in fast jedem Satz durch. Und bei alledem spürt der Leser genau, dass er einer aussterbenden Rasse zusieht.

Die Frau von vierzig Jahren, Evelyn Jarrod, wird von der Tragödie in Form eines “amour fou” zu einem 15 Jahre jüngeren Mann, Miles Vane-Merrick, eingeholt . Der ist zwar auch aus gutem Haus (der jüngste Sohn eines kleinen Landadligen), neben dem Altersunterschied aber würde in den Augen der Jarrods vor allem seine Weltanschauung einer Verbindung mit Evelyn im Weg stehen: Er neigt zu ausgesprochen linkem Gedankengut, auch erstreckt sich sein Freundeskreis weit über die guten Familien hinaus hin zur Bohème und hin zu kommunistischen Arbeitersöhnen. So weit der erste Teil des Romans.

Mit dem Aufflammen dieser Liebe verschwindet die Familie Jarrod in den Hintergrund (weshalb sich der deutsche Titel, der ja das Gewicht so ganz anders legt – auf Evelyn statt auf die Familie wie das Original – auch rechtfertigen lässt). Tatsächlich ist es sogar so, dass der Patriarch in einer relativ rasch abgehandelten Nebenerzählung eines plötzlichen und unterwarteten Todes stirbt, womit der ausser Evelyn und Dan am differenziertesten gezeichnete Jarrod vor allem der Autorin aus dem Weg ist.

Evelyn steht nun in den folgenden drei Teilen praktisch im alleinigen Mittelpunkt. Ihre Liebe zu Miles steht von Anfang an unter einem unglücklichen Stern. Evelyn wie Miles sind im Grunde genommen herrschsüchtige Menschen; jeder der beiden möchte den jeweils anderen ganz genau so haben, wie er/sie sich ihn wünscht. Evelyn, die ja sonst nichts zu tun hat, möchte Miles ganz für sich haben. (Gleichzeitig allerdings wünscht sie sich, dass er Rücksicht nimmt auf die Familie Jarrod, die von diesem Verhältnis nichts wissen soll.) Miles hingegen hat neben seinem kleinen, halb verfallenen Landgut eine politische Karriere am Köcheln und schreibt Bücher über ökonomische Probleme. Er pocht darauf, alles dies – und die Pflege seines von der Welt Evelyns so verschiedenen Freundeskreises – mit der Liebe zur schönen Witwe in Einklang zu bringen.

Das kann natürlich nicht funktionieren. Streitereien und nachfolgende Versöhnungen folgen aufeinander in einem Teufelskreis, den zunächst keiner der beiden durchbrechen kann. Schliesslich ist es Evelyn, die sich opfert und sich abrupt und radikal zurückzieht. Ein letztes Treffen mit Miles führt dann zum Desaster. Evelyn, aufgeregt durch die halb erwünschte, halb unerwünschte Begegnung, kehrt spät nachts nach Hause zurück, nimmt ein heisses Bad und stellt sich dann nackt ans offene Fenster, um dem Novembernebel zuzuschauen. Die Folge ist eine beidseitige Lungenentzündung. Miles wird an ihr Sterbebett gerufen; Evelyn stirbt seine Hand haltend.

Das klingt hier kitschiger, als es im Roman beschrieben ist. Die Autorin bleibt nüchtern, beobachtet und beschreibt bei aller Liebe und Ironie so distanziert, wie sich die Figuren in den meisten Fällen selber verhalten. Dabei konzentriert sie sich – obwohl vom Standpunkt des allwissenden Erzählers aus schreibend – vorwiegend auf die Gedanken und Gefühle von Evelyn Jarrod. Ihr Stil ist leicht und flüssig; auch der Roman weist vieles von dem unaufdringlichen Plauderton auf, der ihre Gartenbücher so angenehm zu lesen macht – was ich durchaus als Lob meine. Family History ist zwar 1932 im Verlag der Freundin Virginia Woolf, bei Hogarth Press, erschienen, aber Vita Sackville-West ist keine “moderne” Erzählerin wie die Woolf. Das heisst nicht, dass sie veraltet wäre. Von Thematik und Erzählweise her gehört dieser Roman in die Tradition eines Henry James. Von ihren Zeitgenossen haben Edith Wharton oder F. Scott Fitzgerald stilistische und inhaltliche Ähnlichkeiten aufzuweisen.

Mir will scheinen, die Romancière Sackville-West ist hierzulande wenig bekannt. Zu Unrecht, würde ich behaupten.

1 Reply to “Vita Sackville-West: Eine Frau von vierzig Jahren [Family History]”

  1. “Eine Frau von vierzig Jahren”, ein absolut NICHT lesenswertes Buch, spielt in England in den frühen 30-er Jahren. Worum es geht? Um mal nur bei den beiden Hauptprotoganisten zu bleiben:

    – Evelyn Jarrold, 40jährig, eine verwöhnte, durch Heirat aus der Middleclass in die neureiche upperclass aufgestiegene Witwe (sie verlor ihren Mann im 1.Weltkrieg in Frankreich), kennt in ihrem Leben nur Folgendes: teure Kleider und leerer small talk innerhalb der eingeheirateten, neureichen upperclass Familie.
    – Miles Vane-Merrick, 25jährig, halb verarmter Abkömmling einer upper middle class Familie, mit scheinbar sozialistischen Idealen (die aber nie genauer geschildert werden), versucht sich mehr schwärmerisch als von von handfesten Kenntnissen gestützt als Farmer auf einer halb zerfallenen Burg in Kent.

    Der eigentliche Schwachpunkt des Buches liegt in der NICHT vorhandenen (verbalen) Kommunikation zwischen den beiden obengenannten Personen. Warum sich diese zwei sich überhaupt zu einem Liebespaar (jenseits von Körperlichkeit) finden sollten, kann die Autorin in keinem Abschnitt schildern. Es wird ja niergends ein positiv-aufbauendes Gespräch zwischen den beiden geführt. Umsomehr kommen die Gegensätze zum Zuge.
    Evelyn kennt nur die fein geschliffene Umgangsformen zwischen den Personen, die die inhaltliche Leere kaschieren. Daran stört sie sich an ihren Schwagern; noch mehr stört sie sich dann aber an der Personengruppe von Miles Umkreis, die wohl etwas weniger geschliffen, weniger diplomatisch miteienander kommunizieren, dafür sich eher verbal mit geistigem/politischen Inhalt austauschen. Und infolge von Evelyn’s eigener Leere kann sie dann auch nicht verstehen, dass ihr angebeteter Miles noch andere Interessengebiete jenseits ihrer vereinnahmenden, egoistischen Liebe hat. (In einem Anflug von Grosszügigkeit erlaubt sie ihm mal, dass er doch 2 Std. pro Tag sich mit etwas Anderem als nur mir ihr sich beschäftigen dürfe)
    Und hier aber der weitere Schwachpunkt dieses Buches. Niergends ist die Autorin fähig, diese anderen Interessensgebiete von Miles auszudeutschen. Er ist scheinbar am Schreiben eines gesellschaftsanalysierenden Buches, aber niergends wird was Genaueres darüber geschrieben. Also auch Miles bleibt überhaupt nicht genau charakterisiert, oder dann doch bloss dahingehend, dass er ein schwärmerischer Idealist ohne jeglich realen Erfahrungen ist.

    Der Klappentext des Verlegers ist dann auch noch eine grosse Fehlleitung, ein wirkliches Ärgernis, das viel mehr verspricht, als er hält. Womit da 1932 (dem Erscheinungsjahr des Buches) eine grosse Empörung ausgelöst worden sein soll, ist völlig unverständlich. Sicher nicht mit einer impliziten Schilderungen (es wird gar NICHTS geschildert) von sexuellen Handlungen (da hat wohl “Lady Chatterley’s Lovers”, vier Jahre früher geschrieben, viel mehr zu bieten), aber auch nicht mit einem Geschlechterkonflikt. Das ist kein Geschlechterkonflikt, sondern das klare nicht Zusammenpassen von zwei total unterschiedlichen Menschen, egal welchen Geschlechtes sie auch sind.

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