1. Warnung: Bei dem soeben (2012) im Aufbau-Verlag erschienenen Doppelband mit Mark Twains „Geheimer Autobiografie“ handelt es sich – wenn ich das richtig sehe – um Band 1 einer US-amerikanischen Ausgabe, die auf 3 Bände angelegt ist.
2. Warnung: Mark Twain hat nie eine Autobiografie zu Ende geschrieben – so zu Ende geschrieben, dass ein abgerundeter, zur Veröffentlichung bereiter Text da stünde.
3. Warnung: Teile – allerdings bearbeitete Teile – von Mark Twains autobiografischen Fragmenten wurden von früheren Nachlassverwaltern Mark Twains bereits veröffentlicht. Nicht alles ist also neu in diesem Buch.
Dies alles geht meiner Meinung nach nicht ganz klar aus der Verlagswerbung hervor. Ersteres ist, selbst wenn ich mich jetzt täusche, nicht so tragisch, und ich bin, ehrlich gesagt, im Moment zu faul zum Recherchieren. Dritteres ist ebenfalls relativ harmlos, insbesondere, weil die Bearbeitungen früherer Herausgeber nun wegfallen. Zweiteres hingegen halte sich für problematischer.
Samuel L. Clemens, der sich als Autor „Mark Twain“ nannte, hat seit seinem 40. Lebensjahr immer wieder Anläufe zu einer Autobiografie genommen. Er schrieb selber, er diktierte – nichts wollte wirklich gelingen. Vielleicht, weil er sich der Problematik autobiografischen Schreibens sehr bewusst war. Rosenkranzartiges Aufzählen vergangener Ereignisse degradierte für ihn eine Autobiografie zur Geschichtsschreibung – Mark Twains Meinung nach uninteressant für Leser wie Autor. Deshalb versuchte er etwas Neues. Er begann, seine Erinnerungen zu diktieren. „Gespräch“ hiess das Zauberwort: Die Erinnerungen sollten – auch stilistisch – so daherkommen, wie wenn sie gesprächsweise geäussert worden wären. Erste Versuche mit der neuen Form scheiterten noch daran, dass der Gesprächspartner (d.i. die Person, der Mark Twain diktierte) dem Autor nicht behagte.
Später funktionierte dieses „Gespräch“ besser. Die Autobiografie erhielt Schwung – auch, weil Mark Twain Abschied nahm von der Aufzählung vergangener Ereignisse in chronologischer Reihenfolge. Das war ein Teil seiner neuen Methode: Er griff – plaudernd – etwas ihn gerade Interessierendes aus dem Wust des Alltäglichen, Aktuellen. Dieses Ereignis sollte ihn aus der Gegenwart zu etwas Vergangenem führen. Die neue Methode hatte den Vorteil, dass sie zumindest den Autor eine Zeitlang fesselte, und so entstanden v.a. im Jahre 1906 verschiedene autobiografische Fragmente im Diktat.
Den Diktaten heftete Clemens Zeitungsausschnitte an, die die Ereignisse dokumentieren, anhand derer er in die Vergangenheit reiste. All dies wird im ersten Teilband von Meine geheime Autobiografie chronologisch – in der Reihenfolge des Entstehens der Texte, nicht der geschilderten Ereignisse! – abgedruckt.
Dazu kommen im zweiten Teilband detaillierte und philologisch perfekt aufbereitete Anmerlungen. Sie sind für meinen Geschmack sogar ein bisschen zu sehr auf das amerikanische Interesse an der Person ausgerichtet; so, dass wir auch noch die Lebensdaten eines Sklavenjungen erfahren, den Clemens‘ Vater gemietet hatte, als Samuel 4 oder 5 Jahre alt war, und den Mark Twain einmal, in einem halben Nebensatz, erwähnt. (Interessanter schon die Tatsache, dass in Clemens‘ Vater schon früh keine eigenen Sklaven mehr hielt, sondern welche zumietete. Für das Kind Samuel waren Sklaven und Herren nicht sehr verschieden; ausser, dass es sich doch irgendwie der Tatsache bewusst war, dass ein Sklave etwas anderes war als es selber.)
Mark Twain hielt seine „induktive“ Methode für spannender als eine chronologische Reihung. Doch wenn selbst der Autor wieder das Interesse daran verliert … Tatsache ist, dass viele der Clemens faszinierenden Ereignisse 100 Jahre später irrelevant sind. Oft genug bleibt er in der Tagesaktualität stecken – keine Spur von autobiografischem Material. Zudem lässt er häufig einem persönlichen und momentanen Ärger freien Lauf, was ihn als nachtragenden Choleriker erscheinen lässt. Die Zeitungsauschnitte sind allenfalls dem Historiker interessant, den Durchschnittsleser langweilen sie. Der steht nur vor diversen, disparaten Fragmenten verschiedenster zeitlicher und auktorieller Provenienz – eine holperige Lektüre.
Clemens verfügte, dass der Text noch 100 Jahre nach seinem Tod unter Verschluss bleibe, weil er nur so ganz offen und ehrlich sein könne, aber er hat rasch realisiert, dass er es auch unter dieser Voraussetzung nicht schafft, seine eigenen Taten völlig schonungslos zu schildern. Er bewundert Rousseau und Cellini dafür, es gekonnt zu haben. Was er über andere sagt … – nun ja: In den vergangenen 100 Jahren mag die diesbezügliche Schmerzgrenze drastisch gesunken sein. Ich finde jedenfalls in Mark Twains Sätzen bzw. Vorwürfen an Politiker keinen einzigen, den nicht heutzutage ein US-amerikanischer Präsidentschaftskandidat im Wahlkampf dem andern an den Kopf werfen könnte: Korruption, Steuerhinterziehung etc. etc. (Was, nebenbei gesagt, aufzeigt, dass die US-amerikanische Politik schon vor 100 Jahren mit denselben menschlichen Defiziten zu kämpfen hatte wie heute.)
Einer Schwäche war sich Mark Twain aber offenbar nicht bewusst. Er ist parteiisch. Freunde werden in den Himmel gehoben. Es gibt z.B. die bösen Millionäre, denen er immer wieder an den Karren fährt, und es gibt die guten. Die sind u.U. beide im selben Business tätig, und objektiv betrachtet sind die Geschäftsmethoden des einen nicht besser als die des andern, und auch nicht schlechter. Aber der eine hat den Vorzug, mit Clemens befreundet zu sein und wird deshalb über den grünen Klee gelobt. Ähnlich auch bei Politikern: So fällt kein schlechtes Wort über Ulysses S. Grant, den General und späteren Präsidenten. Im Gegenteil: Es wird Lob gehudelt, was das Zeug hält – und das wirkt auf den heutigen Leser äusserst peinlich, auch wenn Clemens wohl wirklich so fühlte, wie er schrieb.
Schon fast tragisch wird es, wenn es um den Geschäftsmann Samuel L. Clemens selber geht. Fehler begehen die andern. Schurken, die hereinlegen, sind die andern. Diverse Konkurse konnten offenbar seine gute Meinung von sich als Geschäftsmann nicht ändern.
„Ja, aber all dies finden wir doch auch in seinen übrigen autobiografischen Schriften, z.B. seinen Reiseerzählungen!“, wird jetzt der eine oder die andere ausrufen. Richtig. Insofern bringt diese geheime Autobiografie auch nichts Neues. Auch insofern nicht, als dass der Humor Mark Twains nur in seinen Erinnerungen an seine Kindheit so richtig zum Tragen kommt. Die wird – bei aller in seinem Witz versteckten Kritik – nachgerade verklärt. Nicht umsonst wohl sind Tom Sawyer und Huckleberry Finn die Gestalten Twains, die das Publikum am meisten liebt. Auch für Clemens ist offenbar ihr Alter, Ort und Zeit ihrer Kindheit, der liebste Schauplatz – der auch, den er am interessantesten beschreiben konnte.
Fazit: Meine geheime Autobiografie ist für Mark-Twain-Aficionados wohl unumgänglich. Wen der oft selbstgerechte Mark Twain anderer autobiografischer Schriften schon geärgert hat, lässt lieber die Finger von dieser geheimen Sache.
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