Bevor ich diesen Text gelesen hatte, kannte ich zugegebenermassen nicht einmal den Namen der Autorin. Dabei gehörte sie im England des 19. Jahrhunderst zu den viel gelesenen Autoren; auch als Dramatikerin war sie erfolgreich. Ihr Hauptthema scheint die High Society gewesen zu sein.
1835 erschien ihre Kurzgeschichte The Red Man. Ich glaube nicht, dass sie je auf Deutsch übersetzt wurde, obiger Titel stammt von mir. Die Geschichte spielt im Paris zur Zeit der Französischen Revolution. Wie für Washington Irving, der 1788 geboren wurde, muss auch für Catherine Gore (*1799) diese Zeit nur noch aus Erzählungen und Überlieferungen bekannt gewesen sein; wie für Washington Irving (und wohl auch fürs Publikum des 19. Jahrhunderts) muss diese Zeit ihrer Eltern und Grosseltern den Geruch übelsten Horrors an sich getragen haben.
Die Geschichte selber ist im Grunde genommen eine von – wie wir heute sagen würden – häuslicher Gewalt. Der Protagonist, ein verschlossener, mürrischer Mensch, verliebt sich trotz seines Charakters in ein junges Mädchen vom Land. Die beiden heiraten. Schon bald kommt eine Tochter zur Welt. Dann beginnt sich das Ehepaar zu entfremden. Es kommt, wie es kommen muss: Die Frau findet in einem adligen Haudegen, der so ziemlich das Gegenteil ihres Gatten darstellt, einen Geliebten. Es kommt noch dicker, wie es noch dicker kommen muss: Sie wird von ihrem Geliebten schwanger. Das Kind, ein Knabe, kommt auf die Welt; der Gatte beginnt aufgrund physiognomischer Einzelheiten schon bald an seiner Vaterschaft zu zweifeln.
Mittlerweile hat sich der adlige Haudrauf-Geliebte zu einem Duell verabredet. Guter Katholik, der er ist, beichtet er am Vorabend des Duells noch seine Sünden, darunter auch die Schwängerung der Geliebten. Warum auch immer (Catherine Gores Erklärungen sind hier ein bisschen merkwürdig; ich weiss nicht, ob sie sich dessen bewusst war, dass Verheiratete in der katholischen Kirche kein Priesteramt ausüben dürfen) sitzt auf der andern Seite des Beichtstuhls der Gatte. Im Duell am nächsten Morgen fällt der Geliebte. In hasserfüllter Freude enthüllt der Gatte der Gattin den Tod des Geliebten, bevor er sie und das illegitime Kind umbringt. Die Tochter lässt er in Ruhe und verschwindet.
Die verwaiste Tochter wird eine Zeitlang auf dem Land bei einfernten Verwandten aufgezogen, bevor plötzlich ein Onkel auftaucht, der sie zu sich nach Paris nimmt. Der Onkel, eine merkwürdig düstere und verschlossene Gestalt, ein Priester, hält das junge Mädchen so ziemlich unter Verschluss und warnt sie vor jedwedem ungebührlichen Kontakt mit der (männlichen) Aussenwelt. Es kommt, wie es offenbar in diesem sittenlosen Paris kommen muss: Die Tochter lernt trotzdem einen jungen Mann kennen und – lässt sich von ihm schwängern. Der Onkel enthüllt sich als der Vater, wirft der Tochter vor, trotz seiner Warnungen ungebührlich gehandelt zu haben und schliesst zur Strafe ihre eine Hand in einen komplizierten, fix an der Wand des Zimmers befestigten Mechanismus ein. Kurze Zeit später gebiert die Tochter ein totes Kind und stirbt selber dabei.
Der Alte überlebt. Er erlebt noch die Französische Revolution, um darin umzukommen.
Die Geschichte ist makaber und soweit gut erzählt. Wo aber kommt The Red Man, der Rote, ins Spiel? Der Rote ist ein Alteisenhändler, Mechanikus und Tüftler, der in dem Pariser Quartier wohnt und arbeitet, in dem auch die Guillotine aufgestellt worden ist. Der Ich-Erzähler der Rahmenhandlung (denn wir haben das typisch romantische Konstrukt einer Rahmen- plus Binnenerzählung vor uns) hat gerade einer Hinrichtung beigewohnt und trifft den Roten nun auf dem Weg nach Hause. Der wird „der Rote“ genannt, weil sich der Rost des Eisens, mit dem er tagtäglich zu tun hat, in seiner Kleidung, in seinen Haaren, ja in den Poren seiner Haut so festgesetzt hat, dass es seine natürliche Färbung zu sein scheint. Der Rote hat den Mechanismus beim Ausbruch der Revolution vom Diener des Alten erhalten – noch mit der Hand der Tochter darin, weil sich der Kasten nicht mehr öffnen lässt.
Man merkt der Autorin ihre mittlerweile offenbar grosse Routine an. Die Story ist soweit gut erzählt, auch wenn die Schilderung des „Roten“ zu viel Platz wegnimmt, zu viel von einer Figur erwarten lässt, die dann in der Binnenerzählung überhaupt keine Rolle spielt. Die Stadt Paris zur Zeit der Revolution ist bedeutend atmosphärischer geschildert, als das z.B. bei Washington Irving der Fall ist. Der grosse Erfolg von Frau Gore bei ihren Zeitgenossen ist also durchaus verständlich und nachvollziehbar. Dass man sie heute kaum noch liest, im deutschen Sprachraum kaum kennt, hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass ihre Geschichten zwar sehr effektvoll aufgebaut sind – der Effekt aber dann alles ist, was wir darin finden.
Fazit: Ich habe eine kleinere literarische Wissenslücke geschlossen, derer ich mir nicht bewusst war, und die, hätte ich sie jetzt nicht geschlossen, mir auch nicht weh getan hätte, hätte ich darum gewusst.