Rund 200 Jahre lang war Italien der Punkt, auf den sich die Sehnsucht der Deutschen richtete. Angefangen hat es wohl mit Winckelmann, der in Rom auf den Spuren der Antike wandelte. Ihm folgte eine Unmenge deutscher Maler und Bildhauer, schliesslich dann Goethe, der der Italien-Sehnsucht seiner Zeit auch im Gedicht „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn …“ Ausdruck verlieh. (Und es spricht für die auf eine Italien-Sehnsucht fixierte Rezeption, dass man nur die erste Strophe kennt – die beiden andern, die mit Italien nichts zu tun haben, sondern nur mit Mignons Vorgeschichte, pflegt man zu ignorieren.) Auf Goethes Spuren wandelten dann Herder wie Anna Amalia (vgl. das Reisetagebuch der Göchhausen). In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts schliesslich ebbt diese Sehnsucht ab. Es gibt aus jener Zeit vor allem noch ein paar Unterhaltungsfilme, die uns zeigen, dass Reisen nach Italien nun jederzeit und jedermann möglich sind. Dennoch gab es auch damals noch Schriftsteller, die in Italien lebten, z.T. auch Italien in ihren Werken thematisierten: Max Frisch, Ingeborg Bachmann, Kuno Raeber – um nur ein paar zu nennen. Vor allem letzterer hat Italien, hat Rom immer wieder zum Thema gemacht.
Der Deutschbalte Victor Hehn nun bildet ein wichtiges Bindeglied zwischen der eigentlich klassischen Epoche der Italien-Begeisterung und der schon fast epigonal zu nennenden des 20. Jahrhunderts. Heute ist er mehr oder minder unbekannt; Wikipedia kennt nicht viel mehr als seine Lebensdaten: 1813-1890. (Allerdings sind dort die Links in die Allgemeine Deutsche Biografie bzw. in die Neue Deutsche Biografie zu finden.)
Für Hehn, den die Neue Deutsche Biografie nicht übel gewählt einen Kulturhistoriker nennt, war Italien so etwas wie die geistige Heimat. Dreimal war er dort: 1839/40, 1860 und 1863. Sein Buch über Italien hat für uns heute insofern einen besonderen Stellenwert, als Hehn Italien noch kannte, bevor die Industrielle Revolution das Land verwandelte.
Hehns Italien-Buch war keine einfache Geburt. Hehn liebt Italien, steht ihm aber keineswegs unkritisch gegenüber. Sein Buch ist sehr persönlich, hierin noch eher Moritz als Vorbild nehmend denn Goethe. Hehn wandelt nur geografisch auf den Spuren Goethes: Rom, Neapel und Sizilien sind auch die Mittelpunkte seines Buchs. Denn wenn Goethe am Gestein interessiert war, und an der Urpflanze, so interessiert sich Hehn für die Landschaft – eher als Botaniker, denn als Maler. Was wächst wo? – Diese Frage scheint sich Hehn immer wieder gestellt zu haben, und so beantwortet er sie auch. Dabei nimmt er sich sowohl die wild wachsenden Pflanzen vor, wie die nur in Gärten und auch dort nur durch komplexe Bewässerungssysteme sich halten könnenden Orangenbäume Siziliens.
Hehn ist kein unkritischer Verehrer Italiens. Er bedauert viele architektonische Verschandelungen, die vor allem die katholische Kirche den Städten angetan habe, viele sog. Verbesserungen, die bekannten Gebäuden zugefügt wurden. Er vermisst in Rom wirklich nennenswerte Spuren der Antike oder der Renaissance. Selbst das Mittelalter habe kaum Spuren hinterlassen – und so scheint für ihn die Grossstadt Rom eine gesichts- und geschichtslose Anhäufung von Materie zu sein. Generell liebt er die Landschaft mehr als die Stadt, beklagt aber Verschandelungen der Landschaft nicht.
Hehns dezidierte eigene Meinung kann auch rassistische Töne annehmen. Er hält den Osten von Sizilien für untraktabel, weil dort die Nachkommen der Karthager und der Mauren – er nennt sie „Beduinen“ – hausen, die der modernen Demokratie noch nicht gewachsen sind und nur dem Faustrecht gehorchen, nicht demokratisch legitimierten Behörden. In diesen „Beduinen“ sieht er auch die Wurzel der damals schon grassierenden Mafia Siziliens.
Daneben aber plädiert Hehn durchaus für ein geeintes und selbstverwaltetes Italien, wie es zu jener Zeit (zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts) sich gerade zu bilden anschickte. Hehn verteidigte auch die italienische Sprache gegen jene, die in ihr nur ein Abfallprodukt der lateinischen sahen, und diesem Derivat das originale Deutsch entgegenhielten, indem er u.a. zu Recht darauf hinwies, dass auch die deutsche Sprache mit ihren Vorstufen kaum kompatibel sei.
Die schönsten Stellen im Buch sind aber jene, in denen Hehn die noch unberührte italienische Landschaft beschreibt. Da nimmt seine Sprache nachgerade lyrischen Schwung, ohne dass uns der genaue Beobachter, der Botaniker, verloren ginge. Hehn kennt seine alten Dichter ebenso wie seinen Linné. Physiognomie der Landschaft, Architektur und Vegetation werden mit Liebe, aber unsentimental betrachtet und beschrieben. Victor Hehns Italien ist heute praktisch vergessen – ein Schicksal, das dieses Büchlein eigentlich nicht verdient hat.
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PS. Es ist reiner Zufall, dass dieser Artikel über ein Italien-Buch am Tag der Wahlen in Italien geschrieben wurde – Wahlen, in denen offenbar zwei Polit-Clowns eine entscheidende Rolle spielen. Italien ist heute nicht mehr Ziel der Sehnsucht, sondern des Spotts und der Häme … 🙁
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