Anthony Kenny: Geschichte der abendländischen Philosophie. Band I: Antike

Schon der Titel deutet es an: Diese Philosophiegeschichte wurde (auch) als Antwort auf die sehr berühmte, wenn auch leider nicht wirklich gelungene Philosophiegeschichte Bertrand Russells verfasst. (Übrigens ist der Bezug im Englischen noch viel klarer; der Originaltitel lautet: A New History of Western Philosophy.) Ansonsten aber nimmt Kenny auf seinen berühmten Vorgänger Bezug – indem er nicht auf ihn Bezug nimmt. (Was ja auch etwas bedeuten will!)

Diese neue Philosophie des Abendlandes wird in vier Bänden ausgeliefert. Die Buchhandels-Ausgabe erscheint beim Primus-Verlag; ich habe vor mir die Lizenz-Ausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft. So viel zu den Präliminarien, nun zu Band I.

Kenny versucht, klassische Philosophiegeschichte, wo Denker um Denker vorgestellt und abgehandelt wird, zu verbinden mit einer Ideen- bzw. Disziplinengeschichte. Am besten lässt sich das im ersten Band illustrieren, wenn wir kurz die Hauptkapitel des Inhaltsverzeichnisses angeben:

  1. Die Anfänge: Von Pythagoras bis Platon
  2. Schulen des Denkens: Von Aristoteles bis Augustinus
  3. Richtiges Argumentieren: Logik
  4. Das Wissen und seine Grenzen: Erkenntnistheorie
  5. Wie Dinge geschehen: Physik
  6. Was es gibt: Metaphysik
  7. Seele und Geist
  8. Das rechte Leben: Ethik
  9. Gott

Vorher stehen eine Karte der wichtigsten philosophischen Orte und natürlich eine Einleitung. Gefolgt wird das Ganze von einer Zeittafel, einer Liste der verwendeten Abkürzungen, einer Bibliografie, einer Liste der Abbildungen (denn illustriert – allerdings „nur“ in schwarz-weiss – ist diese Philosophiegeschichte auch!) und dem Register (Sach- und Personenverzeichnis in einem).

Zwei Kapitel also, wo Denker um Denker vorgestellt wird, wo deren Hauptgedanken schon mal skizziert werden. Ab Kapitel 3 rekapituliert und vertieft Kenny dann die bereits vorgestellten Philosophen. Dabei nimmt dann nicht jeder in jedem Kapitel gleichviel Raum ein – Platon und Aristoteles sind aber natürlich überall prominent vertreten. Auch hier ist Kenny gegenüber Russell im Vorteil, hat er doch – im Gegensatz zu seinem Vorgänger, der meines Wissens nur ein bisschen über Leibniz gearbeitet hat – selber zu den antiken Denkern geforscht und publiziert.

Mich persönlich haben vor allem die Kapitel über die antike Logik, die Epistemologie und die Physik überzeugt. In der Logik macht Kenny klar, dass diese Disziplin nicht erst mit Aristoteles begonnen hat, sondern dass schon Platon damit begann, Substantiv und Verb auseinander zu halten und damit den Boden ebnete für Aristoteles‘ Syllogistik. Nach Aristoteles ist dann vor allem wieder die Stoa ein wichtiger Punkt in der Geschichte der Logik, die als erste Schule eine Zeichentheorie entwickelte – was mir so nicht bewusst war. In der Erkenntnistheorie wird auch die spätere Entwicklung der Akademie hin zum Skeptizismus geschildert, wie Kenny überhaupt die Zeit zwischen dem Höhepunkt antiker Philosophie bis hin zur Bildung der Scholastik durchaus ernst nimmt. Die römische Philosophie wird so nicht nur als Periode eklektizistischen Abkupferns geschildert, sondern als Epoche eigenständiger Fortschritte. Besser sollte ich sagen: Entwicklungen oder Strömungen, weil Kenny nur bedingt daran glaubt, dass es in der Philosophie einen Fortschritt geben kann wie in einer (Natur-)Wissenschaft. Jede philosophische Diszplin, die sich in diese Richtung entwickelt hat, ist früher oder später von der Philosophie abgekoppelt worden. So versucht Kenny denn auch, das antike Denken nicht mit dem heutigen zu vergleichen (einer der Schwachpunkte Russells, der ständig seine eigene Logik und Epistemologie den früheren Zeiten im Vergleich überzustülpen versuchte). Für Kenny steht zunächst die philosophische Frage im Vordergrund, dann versucht er darzustellen, welche Antwort die jeweiligen Denker und Schulen gaben, dabei herausstellend, was neu, anders oder spezifisch war an dieser Antwort. Eine sehr sympathische Vorgehensweise.

Auch in Bezug auf die Quantität trifft Kenny das rechte Mass. Er ist so ausführlich, wie es das Thema verlangt, ohne sich in Details zu verlieren. Somit ist für den Leser immer eine klare Argumentationslinie erkennbar, und das tut gut.

Alles in allem eine sehr empfehlenswerte Einführung in die Philosophie. Geschrieben nach eigenen Angaben für Philosophie-Studenten im zweiten oder dritten Jahr – aber sicherlich auch zugänglich für den interessierten und nicht auf den Kopf gefallenen Laien. Wohl blitzt hin und wieder der Engländer durch. Nicht nur in gewissen Wortspielen, die der – ansonsten überzeugende – Übersetzer (Manfred Weltecke) halt dann in einer Fussnote erklären muss. Es ist vor allem in der Bibliografie und den Fussnoten Kennys so, dass  praktisch nur englischsprachige Forscher aufgenommen wurden. Als Deutschsprachiger vermisst man natürlich zur Antike den Zeller wie den Gomperz.

Noch zur Übersetzung: Bei den Primärtexten verwendet der Übersetzer existierende und leicht zugängliche deutsche Übersetzungen. Das erleichtert es, ein Zitat in seinem Zusammenhang aufzusuchen, so man es wünscht. Alles in allem ist diese Philosophiegeschichte mit Liebe und Sachkenntnis geschrieben. Ich kann zumindest den ersten Band uneingeschränkt empfehlen. (Die weiteren harren noch der Lektüre.)

PS. Ich gestehe es: Russells Philosophiegeschichte habe ich mittlerweile weggeworfen…