Eduard Zeller: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung (Erster Teil: Allgemeine Einleitung. Vorsokratische Philosophie. Erste Hälfte)

Aktuell fokussiert meine Lektüre sehr stark auf die griechische Antike und auf die Geschichte der Philosophie – und dadurch natürlich auf die Geschichte der antiken, griechischen Philosophie. Um Zellers Monumentalwerk Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung komme ich dabei selbstverständlich nicht herum. Vor mir liegt der erste Teil des ersten Bandes, in der von Wilhelm Nestle herausgegebenen und bearbeiteten 6. Auflage (Leipzig: O. R. Reisland, 1919). Eduard Zeller war da bereits seit 11 Jahren tot; er hat in Nestle aber einen kongenialen Nachfolger gefunden.

Zellers Werk unterscheidet sich von der Philosophiegeschichte Anthony Kennys fundamental – alleine schon durch sein Zielpublikum. Zeller visiert nicht den gerade erst den Eierschalen des Anfängertums entschlüpften Philosophiestudenten des zweiten oder dritten Jahres an. Er schreibt für seinesgleichen. Das sind Altphilologen, Philosophen und Philosophiehistoriker auf Universitätsniveau. Zeller gilt als einer der Begründer der historisch-kritischen Methode – und das merkt man dem Buch auch an. Textkritsche Fussnoten, in denen sich Auseinandersetzungen mit seinen Kollegen nur so türmen, bilden einen grossen Teil des Textvolumens, vielleicht sogar den grösseren als der eigentliche Text. Das macht eine Lektüre recht schwierig. Man ist versucht, diese Anmerkungen bei der Lektüre wegzulassen; aber dann bringt Zeller doch auch wieder interpretatorische Hinweise zu den griechischen Texten. Auch die biografischen Fakten zu den antiken Philosophen, so weit jeweils bekannt, werden prinzipiell in den Fussnoten geliefert. Kein Wunder, umfasst so der erste Band in der 6. Auflage runde 1’500 Seiten und musste aus buchbinderischen Gründen aufgeteilt werden.

So haben wir nun vor uns die „Einleitung“ („Über die Aufgabe, den Umfang und die Methode der vorliegenden Darstellung“ / „Vom Ursprung der griechischen Philosophie“ / „Über den Charakter der griechischen Philosophie“ / „Die Hauptentwicklungsperioden der griechischen Philosophie“) und die „Erste Periode“, die die Vorsokratiker behandelt. Vor allem die beiden Teile über den Ursprung und den Charakter der griechischen Philosophie mögen recht spekulativ sein. Zeller leitet die griechische Philosophie vor allem aus der Religion und der kosmologischen Spekulation her, mit ein bisschen Ethik untergemischt; einen grösseren Einfluss von aussen (Ägypten, Mesopotamien, Indien oder Zoroasters) weist er zurück.

Getreu der historisch-kritischen Methode untersucht Zeller dann praktisch jedes Fitzelchen Text, das man dem einen oder dem andern Vorsokratiker zuschreibt, daraufhin, ob diese Zuschreibung tatsächlich Stich hält. Von der Zuschreibung oder eben Nicht-Zuschreibung hängt ja jeweils die Interpretation der philosophischen Stellung des Betroffenen ab. Es ist faszinierend, wie manche Position, die wir heute als „richtig“ dem einen oder dem andern zuweisen, erst durch Zellers Arbeit errichtet oder gefestigt worden ist. Noch mit vielen gegensätzlichen oder falschen Interpretationen hat er zu kämpfen, widmet diesen Auseinandersetzungen seitenlange Fussnoten. Und wo er durch seinen Tod nun verhindert ist, setzt Nestle dies fort. (Nicht ohne übrigens, sauber und korrekt, durch eckige Klammern seine eigenen Zusätze – ob im Text oder in den Fussnoten – peinlichst genau zu markieren.)

Es ist im Grunde genommen unmöglich, eine Zusammenfassung von Zellers Werk zu schreiben – es sei denn, man wolle selber eine Philosophiegeschichte verfassen. Zeller verfährt immer wieder ähnlich, immer wieder systematisch. Zuerst werden die Quellen zu jedem Philosophen aufgezählt und einer Kritik unterzogen. Danach wird, was von den Quellen bleibt, auf den Inhalt untersucht. Ausgangspunkt ist fast immer die Physik des jeweiligen Denkers, davon weitergehend dessen Kosmologie und Religion, abschliessend die ethischen Implikationen der jeweiligen Lehre. Erkenntnistheoretische Fragen spielen immer wieder eine Rolle – kein Zufall, gilt doch Zeller auch als einer der Begründer des Neukantianismus, in dessen Lehre die Epistemologie zentral ist. (Zeller ist aber sehr gut in der Lage, seine eigene philosophische Position von der der antiken Griechen zu unterscheiden!)

So bin ich denn nun im ersten Teil des ersten Bands über die „Jonier“ (Zellers Orthographie – er bespricht vor allem Thales, Anaximander, Anaximenes, Diogenes von Apollonia) und deren Verdünnung und Verdichtung, über Pythagoras und dessen Physik und Zahlenlehre, bei den Eleaten angelangt: Xenophanes, Parmenides, Zeno, Melissus und deren Auseinandersetzung mit dem Werden und dem Sein. Im Hintergrund auch immer wieder Heraklit. Rund 800 Seiten geballten Wissens.

Keine Lektüre für den Anfänger. Auch ich muss zugeben, dass mir Zellers Text Schwierigkeiten bereitet. Teils, weil ich – mangels Kenntis des Altgriechischen – seinen philologischen Auseinandersetzungen nicht folgen kann; teils, weil die Vorsokratik noch nie „mein Thema“ war.