Christoph Martin Wieland auch als Vorläufer der ‚Schwarzen Romantik‘? – Sein „Diogenes von Sinope“

Ja. Mit der allerdings gewichtigen Einschränkung, dass Wieland von seinem Charakter her offenbar wirklich schlechte oder böse Menschen und Dinge nicht zeichnen wollte oder konnte. Was die ‚Schwarze Romantik‘ des 19. Jahrhunderts produzierte, hätte diesen Mann, der an den schönen Dingen des Lebens und der Kunst sein Stil- und Lebensgefühl entwickelt hatte, wahrscheinlich irritiert, wenn nicht abgestossen. Die Verknüpfung von Sexualität und Tod z.B. in der Thematik des Vampirs hätte Wieland, für den Sexualität ganz eindeutig mit Leben verbunden war, und mit Liebe – diese Thematik also hätte Wieland wohl nur angeekelt, falls er sie überhaupt hätte nachvollziehen können.

Dennoch ist Diogenes von Sinope in einigem als frühe Form der ‚Schwarzen Romanik‘ zu betrachten. Hauptperson dieses kleinen Werks ist – wie der Titel sagt – Diogenes von Sinope, der berühmte Kyniker, der Philosoph in der Tonne. Wieland zeichnet Diogenes keineswegs als menschenverachtenden Zyniker. Der antike griechische Philosoph wird im Gegenteil als einer dargestellt, den eher ein Zuviel an Menschenliebe denn ein Zuwenig zu seiner Philosophie und in seine Tonne geführt hat. (Womit der Philosophie-Professor Wieland historisch gesehen wohl näher an der Wahrheit liegt, als er es mit der gegenteiligen Behauptung getan hätte.)

Dies allein würde aus dem Werklein noch kein romantisches avant la lettre machen. Es ist da zum einen die Form, bzw. die Formlosigkeit. Diogenes von Sinope enthält Gespräche von Diogenes, Quasi-Tagebucheinträge (von Diogenes an einen Intimus gerichtet), und zum Schluss eine Staats-Utopie des Kynikers. (Diogenes soll ja tatsächlich eine verfasst haben, aber die ist m.W. verschollen.) Schon diese Mischung verschiedener literarischer Elemente weist auf die Romantik voraus. Noch mehr aber der Inhalt, v.a. von den Quasi-Tagebucheinträgen. Nicht nur, dass es eben nur ein Quasi-Tagebuch ist, kein echtes, weil die Einträge von Anfang an für einen (das Publikum stellvertretenden) Intimus Diogenes‘ gedacht sind: Diogenes entpuppt sich darin nachgerade als ein zwischen ursprünglicher Menschenliebe und erworbener Menschenverachtung hin und her Gerissener. Ein Beispiel: Als ein Bekannter ihm offenbart, dass er letzte Nacht durchgezecht hat und nun wegen seines Brummschädels einer armen Witwe den Gefallen nicht tun kann, sie vor Gericht zu vertreten, in einer Sache, die für ihn eine Kleinigkeit, für die Witwe aber Tatbestand des Überlebens ist, als dieser Bekannte den Diogenes dann noch für nächste Nacht zu einem weiteren Gelage einlädt, an dem die Spitze der Jeunesse dorée teilnehmen werde, Tänzerinnen und auch andere Künstler – da schleicht Diogenes traurig hinweg. Seine Versuche, den Bekannten doch noch aufzurütteln und dazu zu bewegen, der Witwe seine Dienste zu erweisen, sind gescheitert. Doch Diogenes überwindet sich und geht selber als Anwalt der Witwe vor Gericht. Er gewinnt den Prozess. Der Schluss dieser kleinen Geschichte ist somit ein typisch Wieland’scher. Aber nicht nur der Inhalt, sondern auch Sprache und Stil, die Schilderung des Gesprächs, die Schilderung der Gefühle von Diogenes dabei, die er ja in Ich-Form referiert, sind in einer Tönung gehalten, die den Leser sofort an jenen grossen Zyniker der deutschen Romantik erinnert: an den Nachtwächter des Bonaventura (d.i. Ernst August Friedrich Klingemann). Bei beiden klingt das Thema der enttäuschten (Menschen-)Liebe an, beide haben sie einen von Berufs wegen von den Menschen sich abwendenden Protagonisten eingeführt. Klingemanns Nachtwächter ist noch zerrissener, ein wahrer Zyniker, ein am Leben Gescheiterter – was Wielands Diogenes nicht ist. Auch sprachlich ist natürlich ein Unterschied da: Klingemanns Protagonist formuliert elliptischer und ejakulatorischer; er hat ja mittlerweile den Sturm und Drang zum Vorbild erhalten. Dennoch ist es frappierend, zu sehen, dass Wieland sich jener Stimmung durchaus auch nähern konnte.

Wielands Diogenes beendet die Reise durch sein Universum mit einer klassischen Staats-Utopie. Was uns Wieland hier als das Resultat von Diogenes‘ Denken vorstellt, ist jene von der übrigen Welt abgeschlossene rustikal-patriarchalische Gemeinschaft, die auch im Danischmend als Ideal hingestellt wird. Einerseits enttäuscht dieses rückwärts gewandte Denken beim Aufklärer Wieland, andererseits ist Wieland klug genug, die Haltlosigkeit dieser Utopie einzusehen: Sie ist sehr verletztlich, nur schon das Erscheinen eines einzigen Vertreters der Jeunesse Dorée von Athen oder Sinope würde genügen, Freude am überfeinerten Genuss einzuführen – mit einem Wort: Dekadenz. Selbst die Tatsache, dass Diogenes seinen utopischen Staat auf einer abgelegenen Insel einrichtet, wird diesen, dessen ist sich Diogenes gewiss, vor einem solchen Schicksal nicht bewahren können. Es bleibt Wieland-Diogenes nichts anders übrig, als mit der Ironie, die schon die Bildung dieser utopischen Staats-Insel begleitet hat, den auktoriellen Zauberstab zu schwingen und die Insel – unsichtbar zu machen.

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