Natürlich ist Wieland nicht der Herausgeber, sondern der Verfasser dieses – fiktiven – Briefwechsels. Im Zentrum steht der historisch belegte Sokrates-Schüler Aristipp. Der ehemalige Professor der Philosophie Wieland folgt den durch Diogenes Laertius und Plutarch bekannten Daten recht genau. Das ist weiter auch nicht schwierig, denn es ist herzlich wenig über Aristipp bekannt, ausser, dass er die Schule der sog. Kyrenaiker gegründet haben soll, die später in der der Kyniker aufgegangen ist. (Aber vielleicht war der Gründer auch sein gleichnamiger Enkel.) Die Kyrenaiker lehrten, dass der Philosoph sich von den äusseren Umständen emanzipieren solle. Wäre er reich, solle er seinen Reichtum zwar geniessen, sich aber nicht an Luxus hängen; würde oder wäre er arm, solle er deswegen nicht weniger heiter sein.
Genauso schildert auch Wieland seinen Aristipp. Aus reichem, nordafrikanischem Hause stammend, geniesst er seines Wohlstandes durchaus – was ihn schon rasch mit den übrigen Sokratikern auseinander bringt, bei denen die meisten früh einen Hang zum Kynismus und zur freiwilligen Askese aufwiesen.
Aristipp (wie ich den Roman der Kürze halber nennen will) ist Wielands grosser Altersroman – erschienen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Einmal mehr wendet sich Wieland seiner Lieblingszeit unter den philosophisch-historischen Epochen zu – der Zeit, als Sokrates in Athen lehrte. Wir treffen einige alte Bekannte wieder: Hippias, der hier eine bedeutend weniger zweideutige Rolle spielt als in Agathon; auch Diogenes von Sinope hat (wie wir heute sagen würden) einen Gastauftritt.
Der Roman ist arm an eigentlicher Handlung. Wir erleben Aristipp schon fixfertig als jungen Mann und begleiten ihn bis zur beginnenden Greisenzeit. In dieser Zeitspanne ändert sich sein Denken oder Handeln praktisch gar nicht – wir können also nicht von einem Entwicklungsroman ausgehen. Wieland benutzt den kaum bekannten Sokratiker und dessen Zeit vor allem, um sein eigenes Denken nochmals darzustellen. Dabei geht es um weit mehr als nur seine politischen Ansichten, die Wieland dem antiken Aristipp in den Mund legt. Durch Aristipp und seine Zeitgenossen resümiert Wieland noch einmal seine Gedanken zur Ästhetik (vermittels detaillierter Kritiken fiktiver Kunstwerke), zur Metaphysik (vermittels detaillierter und z.T. die Briefform sprengender Kritiken platonischer Schriften) – selbst eine Ars amandi liefert Wieland. In Gestalt der schönen Hetäre Lais nämlich finden wir auch Wielands Ideal einer Frau: schön, geistreich, gebildet und – unabhängig. Lais ist die emanzipierte Frau avant la lettre. Die Beziehung zwischen ihr und Aristipp mündet nie in eine Ehe und erweist sich gerade dadurch, dass die beiden einander jede (auch sexuelle) Freiheit lassen, als äusserst belastbar und dauerhaft. Diese Freiheit drückt sich auch darin aus, dass die beiden nie längere Zeit zusammen leben. Lais ist vielleicht eine der gelungensten positiven Frauengestalten der Weltliteratur.
Aristipp zeichnet sich durch genau die Heiterkeit aus, die sein Protagonist philosophisch verkörpert. Es ist nicht mehr die ironische Heiterkeit, die Wielands frühere Romane geatmet haben, sondern, was die Franzosen als „sérénité“ bezeichnen – die ruhige, heitere Abgeklärtheit des Alters, die akzeptiert, was ist, ohne zu ändern zu suchen, da man gewiss ist, dass das Neue – wenn überhaupt – nur kurze Zeit besser ist, um letztlich im selben Sumpf menschlichen Schlendrians wieder schlecht zu werden.