Hermann Burgers „Brenner“ – Heimatroman? Autobiografie? Sachbuch?

Um es vorweg zu nehmen: Brenner ist meiner Meinung nach einer der ganz grossen Romane der Weltliteratur, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat.

Es ist der letzte Roman, den Hermann Burger in seinem kurzen Leben zu Ende geschrieben hat. Das heisst, beendet hat er den ersten Band von einer Tetralogie, Brunsleben. Von einem zweiten Band, Menzenmang, existieren die ersten sieben Kapitel, von den Folgebänden Waldau und Gormund ausser Umschlagsentwürfen nichts. In Ich-Form erzählt darin ein Hermann Arbogast Brenner aus seinem Leben. Geschickt verknüpft Burger dabei die aktuelle Gegenwart des erzählenden Ich mit seiner Vergangenheit, seiner Kindheit und Jugend. Die Brücke bilden die Zigarren (Burger schreibt konsequent Cigarre, Cigarier usw.), die das Ich raucht, um sich in die dem Thema des Kapitels angemessene Stimmung zu bringen. Burger wie Brenner sind sich bewusst, dass dieser literarische Trick einem gewissen Proust gehört, der ihn mit seinen Madeleines in die Weltliteratur eingeführt hat. Schon das erste Kapitel von Menzenmang thematisiert dies, werden doch in der Zeit Gegenwart des erzählenden Ich immer wieder Gespräche zur Literatur und Literaturtheorie geführt, zur Kunst und Kunstkritik. Dazu kommt, dass Brenner, der beinahe die Zigarren-Fabrik seines Grossvaters geerbt hätte, seine Zigarren nicht nur raucht, sondern ganze virtuelle Tabakskollegien abhält – Vorlesungen über die Herstellung der Zigarre, die verschiedenen Tabaksblätter, ihre Ernte und Fermentierung, das Wickeln der Zigarre und last but not least, die Art und Weise, wie eine Zigarre geraucht werden soll. Tatsächlich sind Erzählweise und Stil des Romans äusserst komplex, und ich kann sie hier gar nicht vollständig referieren. Burgers Kunst liegt darin, dass jedes Kapitel anmutet wie eine abendliche Plauderei unter Freunden am Kaminfeuer (und natürlich mit einer Zigarre, die friedlich qualmt). In keiner Minute merkt man dem Text an, wie kompliziert er tatsächlich gewickelt ist.

Vieles, was uns Brenner aus seiner Kindheit in Menzenmang erzählt, entspricht wohl auch den Kindheitserlebnissen Burgers. Nicht alles entspricht der objektiven Wahrheit – Burger gibt das zu und spricht denn auch von einer kindlichen Wahrheit, und meint damit in etwa dasselbe, wie jener andere Autobiograf, der seine Eigenbiografie mit Dichtung und Wahrheit untertitelte. Ich warne aber davor, in diesem Roman einfache eine kompliziert erzählte Autobiografie zu sehen. Nicht umsonst hat Burger die komplexere Form des Romans gewählt, eines Romans übrigens, der einmal mehr in seiner Komplexität an diejenigen von Jean Paul erinnert. (Worauf Burger in einem Nebensatz einmal anspielt, ansonsten versteckt er diesen Ahnherrn seines Stils geflissentlich!) Ja, in Menzenmang spielt Brenner sogar auf gewisse Werke eines gewissen Gruber an, die in der Realität die eines gewissen Burger sind – unser Autor verdreifacht sich so nachgerade. (Brenner übrigens, dessen Beruf wir nie erfahren, kokettiert damit, dass er keine Ahnung von Literatur habe.) Eher als Autobiografie trifft es der Begriff ‚Schlüsselroman‘, denn auch andere Figuren aus Burgers Leben erscheinen in diesem Text. Allerdings ist die Verschlüsselung schwach und leicht aufzulösen: Jérôme von Castelmur-Bondo ist der Berner Aristokrat und Historiker Jean Rudolf von Salis, das Schloss Brunsleben, auf der Burger dem alten Mann tatsächlich Gesellschaft geleistet hat nach seiner Scheidung, heisst in Tat und Wahrheit Brunegg und liegt wirklich in der Nähe von Lenzburg (Leonzburg-Combray im Roman, der zweite Teil des Namens in ganz bewusster und dann auch von den Figuren diskutierter Anlehnung an Proust). Ich vermute, dass auch die Diskussionen über Proust oder Rilke so oder ähnlich stattgefunden haben; von Salis war tatsächlich ein äusserst belesener Mann. Brenners Cousin zweiten Grades, der die Zigarren-Fabrik erbt und mit Erfolg weiterführt, existiert tatsächlich. Er  heisst im richtigen Leben Kaspar Villiger, hat die Fabrikanten-Karriere später aufgegeben für einen Posten als Bundesrat (d.i. Mitglied der Schweizer Landesregierung) und das Nachwort zum Band Brenner der Burger-Werkausgabe geschrieben. Bert May, der Dichter-Freund Brenners, ist Klaus Merz, der heute noch im Wynental lebt.

So könnte man weiter entschlüsseln, aber hier noch ein paar Worte zum Wynental. Das gibt es tatsächlich im Schweizer Kanton Aargau, und die WSB, die Wynen- und Suhrental-Bahn fährt dort tatsächlich. Wynental und Menzemang (in der Realität: Menziken) sind für Brenner-Burger der Inbegriff für die Heimat, jenes Paradies, aus dem der Mensch vertrieben wurde, und in das heimzukehren er sich immer wünscht. Brenner wie Burger haben sich ein Leben lang nicht abgenabelt, beide konnten tatsächlich nur an Orten länger leben, die eine rasche und gute Zugsverbindung ins Wynental hatten. In diesem Sinn ist Brenner tatsächlich ein Heimatroman. Dass Burger viele Dialekt-Ausdrücke aus dieser seiner Heimat einfügt, verstärkt diese Note noch. (Ist aber natürlich auch ein literarischer Trick, den Burger wohl seinem Landsmann Jeremias Gotthelf abgeschaut hat.)

Mag sein, dass ich Brenner überschätze. Das läge dann sicher u.a. daran, dass ich die Orte und zum Teil auch die Personen kenne, die Burger vorstellt. Wir haben dasselbe Gymnasium besucht (auch wenn ich ein paar Jahre zu spät kam, um seinen Deutschlehrer Bagdasarianz noch ‚life‘ zu erleben), dieselben Gassen Aaraus durchstriegelt. Ich habe Jean Rudolf von Salis noch im Radio gehört und den Besitzer der ‚Villa Malaga‘ in Le(o)nzburg kannte ich ebenfalls noch. Viele Wynentaler Dialekt-Ausdrücke, die Burger vorführt, sind in Wahrheit Aargauer Ausdrücke; und auch meine Grossmutter, die so ziemlich aus der andern Ecke dieses Kantons stammt, hat sie verwendet. (Im Gegensatz zu Burger-Brenner aber war ich immer ein Zugereister, der irgendwann dann auch wieder wegreiste, und schreibe dies auch hier an einem Ort, der Burger-Brenner bereits zu weit weg von der Heimat wäre.) Last but not least aber bin auch ich Zigarren-Raucher – allerdings nicht ein so kenntnisreich-versnobter wie Burger-Brenner.

Leider konnte Burger die geplante Tetralogie nicht vollenden. Schon in den letzten Kapiteln von Brunsleben packt ihn wieder eine Depression. Er kann ihr für Brunsleben noch entwischen, indem er sie thematisiert. Menzenmang setzt ein mit der Erzählung der (vorläufigen) Gesundung Brenners, aber nach 7 Kapiteln bricht dieser Roman ab. Die Depression, die Burger diesmal packte, war die letzte. Er beging Selbstmord.

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