Matthias Glaubrecht: Am Ende des Archipels. Alfred Russel Wallace

Zu den Rätseln der Wissenschaftsgeschichte gehört die genaue Entstehung der Theorie der Entwicklung der Arten, die sog. Evolutionstheorie. Es besteht kein Zweifel daran, dass Charles Darwin als erster entsprechende Gedanken notiert hat. Es besteht ebenso wenig Zweifel daran, dass Alfred Russel Wallace diese Theorie eigenständig nochmals und nur wenige Jahre später entwickelt hat. Aber Darwin, der grosse Zögerer, hielt eine Publikation lange zurück, während der rasch entschlossene Wallace seine Ideen, quasi im Fieberwahn, auf Borneo entwickelte, niederschrieb und zur Veröffentlichung nach England sandte – an Charles Darwin, sein Vorbild. Darwin, aufgeschreckt, hielt Wallace‘ Papier einige Zeit zurück, genügend Zeit, um sein eigenes Werk The Origin of Species in eine veröffentlichungswürdige Form zu bringen.Aber hier nun beginnt das Rätsel. Denn Wallace hat in einem Punkt etwas vorgebracht, das bei Darwin lange fehlte, aber dann plötzlich da war: Wallace war es, der die Veränderlichkeit der Arten, deren Anpassung an die Umwelt, in seinem Aufsatz aus Borneo festgehalten hat. Darwin hatte diesen Punkt zwar dann in der veröffentlichten Version von The Origin of Species auch eingeführt – es fällt aber bei der Durchsicht der Manuskripte auf, dass entsprechende Passagen auf separatem und anderem Papier mit anderem Stift hinzu gefügt worden sind. Hat Darwin von Wallace abgeschrieben? – Wir werden es wohl nie erfahren.

Das ist der Kern- und Zentralpunkt von Matthias Glaubrechts Buch Am Ende des Archipels, in dem der promovierte Evolutionsbiologe Glaubrecht nicht nur Wallace‘ Leben erzählt, von seiner Kindheit in England, seiner Faszination durch die Reiseberichte von Alexander von Humboldt, seiner ersten Expedition nach Brasilien (die mit einem Fiasko endete: Das Schiff, auf dem Wallace mit den meisten seiner wissenschaftlichen Trophäen nach Europa segelte, fing mitten auf dem Meer Feuer, und Wallace konnte gerade noch sein nacktes Leben retten, aber keinerlei Exponate), über seine zweite, acht Jahre dauernde Reise in den malaiischen Archipel (Borneo, Sumatra, die Molukken, bis nach Papua-Neuguinea), seine bewusst gewählte zweite Rolle hinter Darwin, wenn es um die Evolutionstheorie ging, bis hin zu seinem (heute irritierenden) Einsatz für den Spiritismus. Doch Glaubrecht ist auch Wissenschaftshistoriker und verfolgt deshalb den Einfluss z.B. von Robert Malthus‘ Bevölkerungstheorie in An Essay on the Principle of Population von 1798, den Darwin wie Wallace geradezu verschlungen haben. Aber Glaubrecht hält eben auch mit der eingangs geschilderten wissenschaftsgeschichtlichen Patt-Situation (die Briefe zwischen Darwin und Wallace aus genau dieser Zeit sind verloren!) keineswegs hinter dem Berg. (Bei Darwin-Biografen habe ich sie nicht gefunden…)

Wenn ich nun noch hinzufüge, dass Glaubrecht äusserst interessant und süffig schreiben kann, dennoch die Fakten (und die Sekundärliteratur!) nicht vernachlässigt, so ist wohl klar, dass ich dieses Buch nur empfehlen kann.

Als weiteres Beispiel habe ich von Glaubrecht erfahren – was ich nicht wusste, und was von Darwin-Biografen ebenfalls gern unterschlagen wird – dass Darwin ganz anders als in seiner Selbststilisierung dargestellt, keineswegs als Forscher an der Reise der Beagle teilnahm, sondern als – zahlender Passagier in der Kapitäns-Kajüte. Und auch später verbrachte Darwin sein Leben lieber katalogisierend und seine Theorie an Haushunden und Brieftauben überprüfend zu Hause. Welch ein Gegensatz zu Wallace rastloser Tätigkeit im Urwald!

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