Matthias Glaubrecht hat mir schon mit seiner Biografie des Co-Entdeckers der Evolutionstheorie, Alfred Russell Wallace, Freude bereitet. Ebenfalls Freude bereitet hat er mir als Herausgeber der Folio-Ausgabe von Chamissos Reisebericht in der Anderen Bibliothek. Zwischendurch hat er Weiteres veröffentlicht, das ich nicht gelesen habe, aber als ich sah, dass es nun eine Biografie Adelbert von Chamissos von ihm gibt, war mir klar, dass ich das Buch lesen musste.
Jetzt, beinahe 700 Seiten später, kann ich sagen, dass er mir abermals Freude bereitet hat. Glaubrecht trägt ein stupendes Faktenwissen zusammen. Seine Schilderungen sind interessant, ohne überladen zu sein.
Nur vor einer Aussage möchte ich ihn in Schutz nehmen. Ich habe irgendwo – ich weiß nicht mehr, ob in der Verlagswerbung oder in einer Rezension – gelesen, dass hier zum ersten Mal der ganze Chamisso vorgestellt würde. Der Dichter und der Naturkundler eben, wie es auch im Titel steht. Das stimmt nur bedingt. Zwar vernachlässigt Glaubrecht den Dichter nicht so, wie ihrerseits die bereits existierenden, von Literaturwissenschaftler:innen verfassten Biografien Chamissos, aber man spürt bei der Lektüre, dass er sich hier auf fremden Terrain bewegt. Meist behilft er sich, indem er sich auf literaturwissenschaftliche Schriften bezieht, was sein gutes Recht ist. Dennoch finden wir hier mehr vom ganzen Chamisso als in allen anderen mir bekannten Biografien, auch wenn das Gewicht der Darstellung auf dem Naturforscher Chamisso liegt. (Der ist, abgesehen davon, interessant genug.)
Das Grundlage von Glaubrechts Darstellung liegt, wenn’s ums Psychologische im weitesten Sinn geht, auf der von Chamisso früh erfahrenen Abspaltung von der Heimat. Louis Charles Adélaïde de Chamissot de Boncourt, wie er ursprünglich hieß, ging beim Ausbruch der Französischen Revolution zusammen mit dem Rest seiner Familie aus altem Adel nach Berlin ins Exil. Anders als seine Eltern und seine Geschwister kehrte er aber nicht mehr nach Frankreich zurück, als dies wieder möglich war, sondern blieb in Preußen. Er war zunächst Page am Königshof gewesen, nunmehr Offizier in der preußischen Armee. Als Napoléon Preußen mit Krieg überzog, führte das beinahe dazu, dass Chamisso auf seine ehemaligen Landsleute geschossen hätte. Nur die Kapitulation Preußens rettete ihn davor – sehr gegen seinen Willen, übrigens, denn er stänkerte noch lange gegen den Chef der Garnison, der die lokale Kapitulation befohlen hatte, obwohl er, Chamisso, die Chance auf einen Sieg gesehen hatte.
Zwiegespalten war Chamissos Verhältnis zur deutschen Sprache. Seine bekannten Gedichte, die bis weit ins 20. Jahrhundert Schullektüre waren und auch von Schumann vertont wurden, hat er allesamt auf Deutsch geschrieben, ebenso seinen Schlemihl. Mündlich aber würde er sein Leben lang den Franzosen nicht verleugnen können: Akzent, Wortstellungen, ja Wortschatzprobleme verrieten ihn.
Ebenso zwiegespalten war Chamisso in Bezug auf seine Begabung. Forcierte er erst den Dichter, so würde er später den Naturkundler in den Vordergrund stellen. Als er, nachdem die erste und die zweite Wahl dem Kapitän Otto von Kotzebue einen Korb gegeben hatten, die Chance erhielt, mit dem russischen Forschungsschiff Rurik auf eine Weltumsegelung zu gehen, begegneten dem poetischen Dilettanten, für den sie ihn hielten, deshalb der Kapitän wie der zweite Naturforscher an Bord und sogar der junge wissenschaftliche Zeichner mit beträchtlichem Misstrauen in seine Fähigkeiten. Doch Chamisso, der schon als Junge Herbarien angelegt hatte, nutzte die Gelegenheit. Die Reise sollte sein Glück machen. Obwohl von Hause aus eher Botaniker denn Zoologe, entdeckte er bei der Gattung der Salpa, dass es offenbar Tiere gibt, die einen so genannten Generationenwechsel kennen – sprich: Die neue Generation hat mit dem Aussehen und der Vermehrungsweise der vorher gehenden keinerlei Ähnlichkeit, erst die „Enkel“ sehen wieder aus wie sie. Diese völlige Verwandlung einer Art war bis zu jenem Zeitpunkt unbekannt, und manche Naturwissenschaftler glaubten dem Dichter auch nach der Einreichung der Dissertation über dieses Thema nicht. (Nebenbei wehrt sich Glaubrecht hier gegen die Sage, Chamisso hätte ‚nur‘ eine Ehrendoktorwürde der Universität Berlin erhalten – eine Sage, die auch Wikipedia nach wie vor kolportiert.) Dennoch wurde Chamisso zunächst zweiter Kustos des damaligen königlichen Herbariums in Berlin (heute: Naturhistorisches Museum) dann, nach dem Tod des mit ihm befreundeten ersten, dessen Nachfolger. Das erlaubte es ihm zu heiraten und eine mustergültig biedermeierliche Ehe zu führen. Er reiste kaum noch, verließ aber Berlin noch in seinen letzten Jahren, um einmal mit der Eisenbahn fahren zu können, die damals als letzter Schrei galt. (Ähnlich, was ich mir erlaube, hinzufügen, hatte sich der alte Alexander von Humboldt – eines der großen Idole Chamissos – noch für die gerade entstandene Kunst der Fotografie interessiert und sich fotografieren lassen.)
Glaubrechts Buch ist in vieler Hinsicht ein erweiterter Kommentar zum – 20 Jahre post festum geschriebenen – Reisebericht Chamissos. Ein sehr kenntnisreicher Kommentar, um es gleich zu sagen, und wenn ich hier noch auf ein paar Dinge hinweise, bei denen ich mit dem Autor nicht gleicher Meinung bin, so soll das keineswegs die hohe Qualität der vorliegenden Biografie schmälern.
Da ist einmal der – wie Glaubrecht sagt, von ihm, Glaubrecht, als erster bemerkte – Umstand, dass es im Schlemihl eine Grenze gibt, die der zum Naturforscher gewordene Protagonist auf seine Reisen mit den Siebenmeilenstiefeln nicht überschreiten kann. Glaubrecht sieht, dass diese Grenze recht sehr der erst später von Alfred Russell Wallace beschriebenen Arten-Grenze im Malaiischen Archipel (der Wallace-Linie) ähnelt und fragt sich, ob und wie Chamisso davon gewusst haben könnte. Ich für meinen Teil vermute, dass diese Übereinstimmung rein zufällig ist. Chamisso ließ seinen Schlemihl vor dem Eintritt in die Südsee anhalten, weil dieser – als ehemaliger Teilnehmer an einem Teufelspakt – die dortigen paradiesischen Gefilde nicht betreten durfte. (Umso mehr als, was Glaubrecht selber auch erwähnt, die Siebenmeilenstiefel des Protagonisten in einer ersten Fassung der Erzählung ihm ebenfalls vom Teufel geschenkt worden waren.)
Beim Streit, der zwischen Chamisso und dem Kapitän Otto von Kotzebue schon auf dem Schiff ausgebrochen war, der aber dort wieder befriedet werden konnte, bis ihn Chamisso in seinem Reisebericht wieder aufbrach (allerdings einseitig: Kotzebue, falls er Chamissos Buch gelesen hat, reagierte nicht). Glaubrecht vermutet, dass hier der aus altem Adel stammende Chamisso sich vom gerade erst kürzlich geadelten Kotzebue gegängelt fand. Das halte ich für plausibel, spiegelt es doch den im Ancien Régime virulenten Streit zwischen zwischen dem alten Schwertadel wieder und dem neuen Briefadel, welcher letzterer von den Königen sehr gefördert wurde, um den Schwertadel in die Defensive treiben zu können. Der Briefadel nämlich, der anders als der alte Schwertadel kaum nennenswerte Territorien besaß, war völlig auf die Gunst des Königs angewiesen, auf einen ständigen Aufenthalt am Hof, wo er unter Beobachtung stand.
Natürlich darf bei einer Reise in die Südsee auch ein Wort zu den dortigen Ureinwohnern nicht fehlen. Chamisso war, mehr noch als Georg Forster, dessen Reisebericht er natürlich kannte, ein Kind Rousseaus. Der edle Wilde war für ihn auf den polynesischen Inseln zur Wirklichkeit geworden. So kam es, dass er sie für völlig friedlich hielt und alle Hinweise auf dort existierende bewaffnete Streitkräfte ausblendete. Er war kein Ethnologe, auch wenn er sich in dieser Wissenschaft versuchte (ähnlich, wie er in seinen letzten Jahren noch versuchte, eine Sprachlehre des Polynesischen zu verfassen). Es war ihm nicht gegeben, die sozialen Gegebenheiten der Inselbewohner zu sehen. So konnte er auch die vermeintliche sexuelle Freiheit der dortigen Frauen nicht wirklich erfassen, die aus einem harten Wettbewerb um sozialen Status hervorging: Je mehr sexuelle Erlebnisse eine Frau vorweisen konnte, um so höher war dieser. Im Übrigen stand Chamisso den Polynesiern durchaus wohlwollend gegenüber – allerdings krankte er an einer Art umgekehrtem Rassismus: Er hielt die fremden Völker nicht für schlecht und wollte sie auch nicht bekehren, aber er sprach von ihnen immer wieder als von Kindern. Und anders als bei Humboldt oder Forster finden wir bei Chamisso auch keine dezidierten Aussagen gegen den Kolonialismus und die Sklaverei, die er auf seiner Reise sehr wohl bemerkt haben musste – gab man ihm doch recht deutlich zu verstehen, dass seine Forschungstätigkeit hinter einer genauen Kartografierung der Südsee, der Korrektur geografischer Fehler und vor allem der Sicherung oder Mehrung der russischen Kolonien zurück zu stehen hatte.
(In diesem Zusammenhang wiederholt Glaubrecht, nebenbei, die Theorie, dass Cook auf seiner dritten Weltreise erschlagen worden sei, weil er genau zu dem Zeitpunkt auf der Insel ankam, an dem die Einwohner:innen die rituelle Rückkehr eines ihrer Götter erwartet hatten, dann mit diesem Gott verwechselt wurde und schließlich erschlagen, als sein erster Versuch, die Insel zu verlassen, scheiterte und er umkehren musste – erschlagen, weil den Inselbewohner:innen plötzlich klar wurde, dass er kein Gott sei. Ich halte diese Theorie für einigermaßen problematisch, stellt sie doch die Ureinwohner:innen jener Insel als sehr naiv hin. Ich verweise hier der Einfachheit halber auf den letzten Abschnitt meiner Ausführungen zu Cooks Journal seiner dritten Reise.)
Einerseits hat Glaubrecht Recht, wenn er festhält, dass die Entdeckung des Generationenwechsels der Salpen in keiner Weise auf eine Entdeckung der Evolutionstheorie hinausläuft und für Chamisso die Arten nach wie vor unabänderliche biologische Entitäten waren (obwohl die genaue Abgrenzung von Art zu Unterart schon damals schwierig war). Andererseits ist die Evolutionstheorie Darwin und Wallace nicht einfach so vom Himmerl zugefallen. Man findet man Anklänge an die kurze Zeit später unabhängig voneinander von Wallace und Darwin formulierte Evolutionstheorie in jener Sattelzeit (wie Glaubrecht diese Zeit zwischen ausgehendem 18. und beginnendem 19. Jahrhundert nennt) bei verschiedenen Autoren – Alexander von Humboldt zum Beispiel ebenso wie bei Erasmus Darwin, dem Großvater von Charles.
Last but not least bietet Chamissos Reise dem Autor auch noch die Gelegenheit gleich in zwei Fällen auf ökologische Desaster hinzuweisen. Für eines davon kann der Mensch nicht verantwortlich gemacht werden: Chamissos Reise fiel in jene Zeit, in der auch das „Jahr ohne Sommer“ stattfand (1816). Literarisch Bewanderte werden sich an die Entstehungsgeschichte des Romans Frankenstein von Mary Shelley erinnern, der entstand weil die Gesellschaft um Lord Byron in jenem kalten und verregneten Sommer am Genfer See keine andere Möglichkeit mehr sah, sich zu vergnügen, als dass man sich gegenseitig Geschichten erzählte. In Chamissos Reisetagebuch sehen wir nun: Das Phänomen verspäteter Frühlinge, verfrühter Herbste und nicht stattfindender Sommer findet sich an verschiedenen Orten rund um die Welt – das „Jahr ohne Sommer“ war demnach nicht nur ein Problem Europas und Nordamerikas, von wo es natürlich zuerst Eingang in die Annalen der Wissenschaft gefunden hat. Für das andere Desaster aber waren die Weltumsegelungen tatsächlich verantwortlich. Die Entdecker schleppten nämlich, manchmal unabsichtlich (wie bei den Ratten), manchmal auch guten Willens (wie bei den Katzen, die die Ratten bekämpfen sollten) diverse Schädlinge in die erkundeten Gebiete ein. Vor allem die Katzen, so Glaubrecht, sind ursächlich für das Verschwinden einiger Vogelarten auf diversen Südsee-Inseln.
Es gäbe noch viel zu diesem Buch zu schreiben. Ich will es mir einfach machen und sagen: Lest selber! Es lohnt sich auf jeden Fall.
Und damit alle wissen, was zu bestellen ist:
Matthias Glaubrecht: Dichter, Naturkundler, Welterforscher. Adelbert von Chamisso und die Suche nach der Nordostpassage. Berlin: Galiani, 2023